Selbstbetrachtungen Mark Aurel

Mark Aurel: Selbstbetrachtungen. Viertes Buch.

I.

Wenn der in uns herrschende Geist seiner Natur folgt, kann es uns – den Ereignissen gegenüber – nicht schwer fallen, auf alles vorbereitet zu sein und das Gegebene hinzunehmen.

Das Festbestimmte, Abgemachte ist es dann überhaupt nicht, wofür wir Interesse haben, sondern: was uns gut und wünschenswert scheint, ist doch immer nur mit Vorbehalt ein Gegenstand unseres Strebens; was sich uns aber geradezu in den Weg stellt, betrachten wir als ein Mittel zu unserer Uebung: der Flamme gleich, die sich auch solcher Stoffe zu bemächtigen weiß, deren Berührung ein kleineres Licht verlöschen würde, aber ein helles Feuer nimmt in sich auf und verzehrt, was man ihm zuführt, und wird nur größer dadurch.

II.

Bei allem, was du tust, gehe besonnen zu Werke und so, dass du dabei die höchste Lebenskunst im Auge hast!

Mark Aurel über den innerlichen Rückzug

III.

Man liebt es, sich zuzeiten aufs Land, ins Gebirge, an die See zurückzuziehn. Auch du sehnst dich vielleicht dahin. Im Grunde genommen aber steckt dahinter eine große Beschränktheit. Es steht dir ja frei, zu jeglicher Stunde dich in dich selbst zurückzuziehn, und nirgends finden wir eine so friedliche und ungestörte Zuflucht als in der eignen Seele, sobald wir nur etwas von dem in uns tragen, was wir nur anzuschauen brauchen, um uns in eine vollkommen ruhige und glückliche Stimmung versetzt zu sehen-eine Stimmung, die nach meiner Ansicht freilich ein anständiges, sittliches Wesen bedingt. Auf diese Weise also ziehe dich beständig zurück, um dich immer wieder aufzufrischen. Einfach und klar und bestimmt aber seien jene Ideen, die aus deiner Seele so manches hinweg spülen, wenn du sie dir vergegenwärtigst, und dir eine Zuflucht schaffen sollen, aus der du nicht schlecht gelaunt zurückkehrst. Und was sollte dich auch dann verdrießen? „Die Schlechtigkeit der Menschen?“

Aber wenn du bedenkst, dass die vernünftigen Wesen füreinander geboren sind, dass das Ertragen des Unrechts zur Gerechtigkeit gehört, dass die Menschen unfreiwillig sündigen, und dann–wie viel streitsüchtige, argwöhnische, gehässige und gewalttätige Menschen dahin gemusst haben und nun ein Raub der Verwesung sind – wirst du da deine Abneigung nicht los werden? „Oder ist es dein Schicksal?“ So erinnere dich nur jener zwei Möglichkeiten: entweder wir sagen: es gibt eine Vorsehung, oder: wir sehen uns als Teile und Glieder eines Ganzen an, und unserer Betrachtung der Welt liegt die Idee eines Reiches zugrunde. „Oder ist es dein Leib, der irgendwie schmerzt?“ Aber du weißt ja, der Geist, wenn er sich selbst begriffen und seine Macht kennen gelernt hat, hängt nicht ab von sanfteren oder rauheren Lüften; auch weißt du, wie wir über Schmerz und Freude denken, und bist einverstanden damit. „Oder macht dir der Ehrgeiz zu schaffen?“ Aber wie schnell breitet Vergessenheit über alles ihren Schleier! wie unablässig drängt eins das andere in dieser Welt ohne Anfang und ohne Ende! Wie nichtig ist jeder Nachklang unseres Tuns! wie veränderlich und wie urteilslos jede Meinung, die sich über uns bildet und wie eng der Kreis, in dem sie sich bildet!

Ein Punkt im Weltall

Die ganze Erde ist ja nur ein Punkt im All, und wie klein ist nun wieder der Winkel auf ihr, wo von uns die Rede sein kann! Wie viele können es sein, und was für welche, die unsern Ruhm verkünden? In der Tat also gilt es sich zurückzuziehen auf eben diesen kleinen Raum, der unser ist, und hier sich weder zerstreuen, noch einspannen zu lassen, sondern sich frei zu bewegen und die Dinge anzusehen wie ein Mensch, wie ein Glied der Gesellschaft, wie ein sterbliches Wesen. Unter allen Wahrheiten aber, die dir am geläufigsten sind, müssen jedenfalls die beiden sein: die eine: dass Außendinge die Seele nicht berühren dürfen, sondern wirklich Außendinge sein und bleiben müssen. Denn Widerwärtigkeiten gibt es nur für den, der sie dafür hält. Die andere: dass alles, was du siehst, sich bald verwandeln und nicht mehr sein werde, wie du selbst schon eine Menge Wandlungen durchgemacht hast. Mit einem Wort: die Welt ist ein ewiger Wechsel, das Leben ein Wahn!

IV.

Haben wir alle das Denkvermögen gemein, dann auch die Vernunft? dann auch die Stimme, die uns sagt, was wir tun und lassen sollen; dann auch eine Gesetzgebung; wir sind also alle Bürger eines und desselben Reiches. Und so würde folgen, dass die Welt ein Reich ist. Denn welches Reich wäre sonst dem menschlichen Geschlecht gemein? Stammt nun etwa jene Denkkraft, jenes Vernünftige und Gesetzgebende aus diesem uns allen gemeinsamen Reiche oder sonst woher?

Denn gleichwie bei verschiedenen Stoffen jeder seine besondere Quelle hat (denn es ist Nichts, was aus dem Nichts entstände, so wenig wie Etwas in das Nichts übergeht), so muss auch das Geistige irgendwoher stammen.

Mark Aurel über Geburt und Tod

V.

Mit dem Tode verhält es sich wie mit der Geburt: beide sind Geheimnisse der Natur. Dieselben Elemente welche hier sich einigen, werden dort gelöst. Und das ist nichts, was uns unwürdig vorkommen könnte. Es widerspricht weder dem vernünftigen Wesen selbst, noch der Art und Weise seiner Einrichtung.

VI.

Es liegt freilich in der Natur der Sache, dass gewisse Leute einen solchen Widerspruch darin finden. Aber wer dies nicht will, will nicht, dass der Feigenbaum Saft habe. Ueberhaupt aber bedenke, dass ihr beide, du und er, in kürzester Zeit sterben werdet, und dass bald nicht einmal euer Name in Erinnerung bleibt.

VII.

Lass deinen Wahn schwinden, du hörst auf dich zu beklagen. Beklagst du dich nicht mehr, ist auch das Uebel weg.

VIII.

Der Begriff des Heilsamen und des Schädlichen schließt es schon in sich, dass, was den Menschen nicht verdirbt, auch sein Leben nicht verderben oder verbittern kann weder von auß noch von innen.

IX.

Weil es nützlich ist, handelt die Natur notwendigerweise so, wie sie handelt.

X.

Alles, was geschieht, geschieht mit Recht; einer genauen Beobachtung kann das nicht entgehen. Auch sage ich nicht bloß: es ist in der Ordnung, sondern: es ist recht, d.h. als käme es von einem, der alles nach Recht und Würdigkeit austeilt. Setze deine Beobachtungen nur fort, und du selbst – was du auch tust, mache gut! gut im eigentlichsten Sinne des Worts! Denke daran bei jeder deiner Handlungen!

XI.

Wie derjenige denkt, der dich verletzt, oder wie er will, dass du denken sollst, so denke gerade nicht. Sondern sieh die Sache an, wie sie in Wahrheit ist.

XII.

Zu zweierlei müssen wir stets bereit sein: einmal, zu handeln einzig den Forderungen entsprechend, welche das in uns herrschende Gesetz an uns stellt – und das heißt immer auch zugleich zum Nutzen der Menschen handeln. Sodann: auf unserer Meinung nicht zu beharren, wenn einer da ist, der sie berichtigen und uns so von ihr abbringen kann. Doch muss jede Sinnesänderung davon ausgehen, dass die neue Ansicht die richtige und gute sei, nicht davon, dass sie Annehmlichkeiten und $auml;ußere Vorteile verschaffe.

XIII.

Wenn du Vernunft hast, warum gebrauchst du sie nicht? Tut sie das ihrige, was kannst du mehr verlangen?

XIV.

Was du bist, ist doch nicht das Ganze. So wirst du denn auch einst aufgehen in dem, der dich erzeugte; oder vielmehr, nach geschehener Wandlung wirst du wieder aufgenommen werden in seine Erzeugernatur.

XV.

Viele Weihrauchkörner fallen auf denselben Altar der Gottheit – das ist des Menschen Leben. Wieviel davon schon gestreut ist, wieviel noch nicht, was liegt daran?

XVI.

Sobald du dich zu den Grundsätzen und dem Dienst der Vernunft bekehrst, kannst du innerhalb zehn Tagen denen ein Gott sein, denen du jetzt so verächtlich erscheinst wie ein Affe oder ein wildes Tier.

XVII.

Richte dich nicht ein, als solltest du hundert Jahre alt werden. Denn wie nahe ist vielleicht dein Ende! Aber solange du lebst, solange es in deiner Macht steht – sei gut!

XVIII.

Welch ein Gewinn, wenn man auf anderer Leute Worte, Angelegenheiten und Gedanken nicht achtet, sondern nur merkt auf das eigene Tun, ob es gerecht und fromm und gut sei, „-das Auge abgewendet vom Pfuhl des Lasters, nur der eignen Bahn nachgehend, grad und unverrückt.“

Mark Aurel über die Sucht nach Ruhm

XIX.

Der Ruhmbegierige bedenkt nicht, dass auch die in aller Kärze nicht mehr sein werden, die seiner gedenken, und dass es sich mit jedem folgenden Geschlecht ebenso verhält, bis endlich die Erinnerung, durch solche fortgepflanzt, die nun erloschen sind, selber erlischt. Aber gesetzt auch, sie wären unsterblich, die deinen Namen nennen, und unsterblich dieses Namens Gedächtnis: was nätzt dir es? dir, der du bereits gestorben bist? Aber auch, was nützt dir es bei deinem Leben? Es sei denn, dass du zeitliche Vorteile dabei hast. Sind also Ruhm und Ehre dir zuteil geworden, achte dieser Gabe nicht! sie macht dich eitel und abhängig vom Geist und Wort der andern.

XX.

Jegliches Schöne ist schön durch sich selbst und in sich vollendet, so dass für ein Lob kein Raum in ihm ist. Wird es doch durch Lob weder schlechter noch besser. Dies gilt auch von dem, was man in der Regel schön nennt, von dem körperlich Schönen und den Werken der Kunst. Das wahrhaft Schöne bedarf des Lobes ebensowenig als das göttliche Gesetz, die Wahrheit, die Güte, die Scham. Oder vermag daran etwa das Lob zu bessern oder der Tadel zu verderben? Wird die Schönheit des Edelsteins, des Purpurs, des Goldes, des Elfenbeins, die Schönheit eines Instruments, einer Blüte, eines Bäumchens geringer dadurch, dass man sie nicht lobt?

XXI.

Wenn die Seelen fortdauern, wie vermag sie der Luftraum von Ewigkeit her zu fassen? Aber wie ist denn die Erde imstande, die Leichname sovieler Jahrtausende zu fassen? Die Leiber, nachdem sie eine Zeitlang gedauert haben, verwandeln sich und lösen sich auf, und so wird andern Leibern Platz gemacht. Ebenso die in den Aether versetzten Seelen. Eine Zeitlang halten sie zusammen, dann verändern sie sich, dehnen sich aus, verbrennen und gehen in das allgemeine Schöpferwesen auf, so dass ein Raum für neue Bewohner entsteht. So etwa ließe sich die Ansicht von der Fortdauer der Seelen erklären.

Was aber die Leiber betrifft, so kommt hier nicht bloß die Menge der auf jene Weise untergebrachten, sondern auch die der täglich von uns und von den Tieren verzehrten Leiber in Betracht. Welch eine Menge verschwindet und wird so gleichsam begraben in den Leibern derer, die sich davon nähren, und immer derselbe Raum ist es, der sie fasst, durch Verwandlung in Blut, in Luft- und Wärmestoffe. Das Prinzip oder die Summe aller dieser Erscheinungen ist also: die Auflösung in die Materie und in den Urgrund aller Dinge.

XXII.

Stets entschieden, gilt es, zu sein und das Rechte im Auge zu haben bei jeglichem Streben. In dem Gedankenleben aber sei das Begreifliche dein Leitstern.

XXIII.

Was mit dir zusammenstimmt, o Welt, ist auch für mich angemessen! Nichts kommt zu früh für mich und nichts zu spät, wenn es bei dir heißt: „Zu guter Stunde.“ Eine süße Frucht ist mir alles, was du gezeitigt hast, Natur. Von dir und in dir ist alles und zu dir kehrt es zurück.–Als Aristophanes Theben wiedersah, rief er: „Du liebe Stadt des Kekrops!“ und ich, ich sollte mit dem Blick auf dich nicht sagen: „Du liebe Stadt des höchsten Gottes?“

XIV.

Nur auf wenig Dinge, heißt es, darf sich deine Tätigkeit erstrecken, wenn du dich wohl befinden willst. Aber wäre es nicht besser, sie auf das Notwendige zu richten? auf das, was wir als Wesen, die auf das Leben in Gemeinschaft angewiesen sind, tun sollen? Denn das hieße nicht bloß das Vielerlei, sondern auch das Schlechte vermeiden und müsste uns also doppelt glücklich machen. Gewiss würden wir ruhiger und zufriedener sein, wenn wir das meiste von dem, was wir zu reden und zu tun pflegen, als überflüssig ließen. Ist es doch durchaus notwendig, dass wir in jedem einzelnen Falle, ehe wir handeln, eine Stimme der Warnung vernehmen; und sollte die von etwas ausgehen künnen, das an sich selbst unnötig ist? Zuerst aber befreie deine Gedanken von allem, was unnütz ist, dann wirst du auch nichts Unnützes tun.

Mark Aurel: Selbstbetrachtungen. Viertes Buch.

XXV.

Unternimm den Versuch – vielleicht gelingt es dir – zu leben wie ein Mensch, der mit seinem Schicksal zufrieden ist, und, weil er recht handelt und liebevoll gesinnt ist, auch den inneren Frieden besitzt.

XXVI.

Willst du? so höre noch dies: Rege dich nicht selbst auf, und bleibe immer bei dir. Hat sich jemand an dir vergangen: an sich selbst hat er sich vergangen. Ist dir etwas Trauriges widerfahren: es war dir von Anfang an bestimmt; was geschieht, ist alles Fägung. Und im Ganzen: das Leben ist kurz. Die Gegenwart ist es, die wir nutzen sollen, durch rechtschaffenes und überlegtes Handeln, und wenn wir ausruhen wollen, durch ein besonnenes Ausruhen. Auch in Erholungsstunden bleibe nächtern!

Mark Aurel über die Weltordnung

XXVII.

Entweder ist die Welt ein wohlgeordnetes Ganzes oder ein zufälliges Gemenge, das man aber doch eine Weltordnung nennt. Doch wie? Kann in dir eine gewisse Ordnung herrschen, wenn im Weltganzen Unordnung herrscht? Und das könnte sein bei der ineinandergestimmten Vereinigung aller möglichen Kräfte, die einander widerstreiten und zerteilt sind?

XXVIII.

Es gibt schwarze Charaktere, weibische, halsstarrige, tierische, viehische, kindische, träge, zweideutige, geckenhafte, betrügerische, tyrannische Charaktere.

XXIX. Wenn der ein Fremdling ist in der Welt, der nicht weiß, was auf ihr ist und geschieht, so nenne ich den einen Flüchtling, der sich den Ansprüchen des Staates entzieht; einen Blinden, der das Auge seines Geistes schließt; einen Bettler, der eines andern bedarf und nicht in sich alles zum Leben Nötige trägt; einen Auswuchs des Weltalls, der von dem Grundgesetz der Allnatur abweicht und–mit dem Schicksal hadert! als hätte sie, die dich hervorgebracht, nicht auch dieses erzeugt; ein abgehauenes Glied der menschlichen Gesellschaft, der mit seiner Seele von dem Lebensprinzip der einen alle Vernunftwesen umfassenden Gemeinde geschieden ist.

XXX. Es gibt Philosophen, die keinen Rock anzuziehen haben und halbnackt einhergehen. „Nichts zu essen, aber treu der Idee.“ Auch für mich ist die Philosophie kein Brotstudium.

XXXI. Liebe immerhin die Kunst, die du gelernt hast, und ruhe dich aus in ihr.

Doch gehe durchs Leben nicht anders wie einer, der alles, was er hat von ganzem Herzen den Göttern weiht, niemandes Tyrann und niemandes Knecht.

XXXII. Betrachten wir die Geschichte, z.B. die Zeiten Vespasians, so finden wir Menschen, die sich freien, Kinder zeugen, krank liegen, sterben, Krieg führen, Feste feiern, Handel treiben, Acker bauen; finden Schmeichler, Freche, Misstrauische, Listige, oder solche, die ihr Ende herbeiwünschen, die sich über die schlimmen Zeiten beklagen; finden Liebhaber, Geizige, Ehrgeizige, Herrschsüchtige. Nicht wahr? Ihr Leben ist jetzt nirgends mehr zu finden. Gehen wir über auf die Zeiten des Trajan: alles ganz ebenso. Und auch diese Zeit ging zu Grabe.–So betrachte die Grabschriften aller Zeiten und Völker, damit du siehst, wie viele, die sich aufschwangen, nach kurzer Zeit wieder sanken und vergingen.

Namentlich muss man immer wieder an die denken, bei denen wir es mit eignen Augen gesehen haben, wie sie nach eitlen Dingen trachteten, wie sie nicht taten, was ihrer Bildung entsprach, daran nicht unablässig festhielten und sich daran nicht genügen ließen. Und fällt uns dann die Regel ein, dass die Behandlung einer Sache ihren Maßstab in dem Wert der Sache selbst hat, so wollen wir sie doch ja beobachten, damit wir uns vor dem Ekel bewahren, der die notwendige Folge davon ist, dass man den Dingen mehr Wert beilegt, als sie verdienen.

XXXIII.

Worte, die ehemals im Gebrauch waren, sind nun veraltet. So sind auch die Namen einst berühmter Männer, eines Camill, Scipio, Cato, dann eines Augustus, dann Hadrians, dann Antoninus Pius, später gleichsam veraltete Worte. Sie verbleichen bald und nehmen das Gewand der Sage an, bald sind sie gar versunken in Vergessenheit. Dies gilt von denen, die ehemals so wunderbar geleuchtet haben. Denn von den andern, sind sie nur tot, weiß man nichts mehr, hat man nie etwas gehört. Also ist Unvergesslichkeit ein leeres Wort. Aber was ist es denn nun, wonach sich es lohnt zu streben? Nur das eine: eine tüchtige Gesinnung, ein Leben zum Besten anderer, Wahrheit in jedem Wort, ein Zustand des Gemüts, wonach dir alles, was geschieht, notwendig scheint und dir befreundet, aus einer Quelle fließend, mit der du vertraut bist.

XXXIV.

Gib dich dem Schicksal willig hin, und erlaube ihm, dich mit den Dingen zu verflechten, die es dir irgend zuerkennt.

XXXV. Eintagsfliegen sind beide, der Gedenkende und der, dessen gedacht wird.

Mark Aurel über die Stetigkeit der Wandels

XXXVI.

Alles entsteht durch Verwandlung, und die Natur liebt nichts so sehr, als das Vorhandene zu verwandeln und Neues von ähnlicher Art zu erzeugen. Jedes Einzelwesen ist gewissermaßen der Same eines zukünftigen, und es wäre eine große Beschränktheit, nur das als ein Samenkorn anzusehen, was in die Erde oder in den Mutterschoß geworfen wird.

XXXVII.

Wie bald wirst du tot sein, und noch immer bist du nicht ohne Falsch, nicht ohne Leidenschaft, nicht frei von dem Vorurteil, dass Aeußeres dem Menschen schaden känne, nicht sanftmütig gegen jedermann, und noch immer nicht überzeugt, dass Gerechtigkeit die einzig wahre Klugheit sei.

XXXVIII.

Mache dich mit den herrschenden Gesinnungen der Menschen bekannt, mit ihren Sorgen und mit dem, was sie fliehen und was sie erstreben.

XXXIX.

In der Seele eines andern sitzt es nicht, was dich unglücklich macht, auch nicht in der Wendung deiner äußeren Verhältnisse. Wo denn, fragst du? In deinem Urteil! Halte es nicht für ein Unglück, und alles steht gut. Und wenn, was dich zunächst umgibt, deine Haut verwundet, geschnitten, gebrannt wird, muss der Teil deines Wesens, der über solche Dinge urteilt, in Ruhe sein, d.h. er muss denken, dass das, was ebenso den Guten wie den Bösen treffen kann, unser Unglück oder unser Glück unmöglich ausmacht. Denn was bald der erfährt, der gegen die Natur lebt, bald wieder der, der ihrer Stimme folgt, das kann doch selbst nicht widernatürlich oder natürlich heißen.

XL.

Die Welt ist ein einziges lebendiges Wesen, ein Weltstoff und eine Weltseele. In dieses Weltbewusstsein wird alles aufgenommen, so wie aus ihm alles hervorgeht, so jedoch, dass von den Einzelwesen eines des anderen Mitursache ist und auch sonst die innigste Verknüpfung unter ihnen stattfindet.

XLI.

Nach Epiktet ist der Mensch – eine Seele mit einem Toten belastet.

XLII.

Was zu dem Wandlungsprozess gehört, dem wir alle unterworfen sind, das kann als solches weder gut noch böse sein.

XLIII.

Ein Strom des Werdens, in dem eins das andre jagt, ist die Zeit. Denn ein jegliches Ding – verschlungen ist es, kaum da es aufgetaucht. Aber kaum ist das eine dahin, trägt die Woge schon wieder ein anderes her. Doch auch dieses wird weggeschwemmt.

XLIV.

Wie die Rose die Vertraute des Sommers und die Früchte die Freunde des Herbstes sind, so ist das Schicksal uns freundlich gesinnt, mag es nun Krankheit oder Tod oder Schimpf und Schande heißen. Denn Kummer machen solche Dinge nur dem Narren.

XLV.

Das Folgende entspricht immer dem Vorangehenden, nicht nur in der Weise des Nacheinander mit bloß äußerer Verknüpfung, sondern durch ein inneres geistiges Band. Denn wie im Reiche des Gewordenen alles harmonisch gefügt ist, so tritt uns auch auf dem Gebiete des Werdens keine bloße Aufeinanderfolge, sondern eine wunderbare innere Verwandtschaft entgegen.

XLVI.

Mag es richtig sein, was Heraklit sagt, dass in der Natur das eine des andern Tod sei, der Erde Tod das Wasser, des Wassers die Luft, der Luft das Feuer und umgekehrt; doch hat er nicht gewusst, wohin alles führt. Aber es lässt sich auch von solchen Leuten lernen, die das Ziel ihres Weges aus dem Gedächtnis verloren haben, auch von solchen, die, je mehr sie mit dem alles beherrschenden Geiste verkehren, tatsächlich sich desto mehr von ihm entfernen, auch von denen, welchen gerade das fremd ist, was sie täglich beschauen, oder die wie im Traume handeln und reden (denn auch das nennt man noch Tätigkeit), oder endlich von solchen, die wie die kleinen Kinder alles nachmachen.

XLVII.

Wenn dir ein Gott weissagte, du würdest morgen, höchstens übermorgen sterben, so könntest du dich über dieses „Uebermorgen“ doch nur freuen, wenn gar nichts Edles in dir steckt. Denn was ist es für ein Aufschub! Ebenso gleichgültig aber müsste es dir sein, wenn man dir prophezeite: nicht morgen, sondern erst nach langen Jahren!

Mark Aurel über machtlose Ärzte

XLVIII.

Bedenke, wie viele Ärzte sind gestorben, nachdem sie an wie vielen Krankenbetten bedenklich den Kopf geschüttelt; wie viele Astrologen, die erst andern mit großer Wichtigkeit den Tod verkündigten; wie viele Philosophen, nachdem sie über Tod und Unsterblichkeit ihre tausenderlei Gedanken ausgekramt; wie viele Kriegshelden mit dem Blute anderer bespritzt; wie viele Fürsten, die ihres Rechtes über Leben und Tod mit großem Uebermute brauchten, als wären sie selbst nicht auch sterbliche Menschen; wie viele Städte – Helion, Pompeji, Herkulanum und unzählige andere – sind, dass ich so sage, gestorben!

Dann die du selbst gekannt hast, einer nach dem andern! Der jenen begrub, wurde dann selbst begraben, und das binnen kurzem. Denn alles Menschliche ist nichtig und vorübergehend, das Gestern eine Seifenblase, das Morgen – erst eine einbalsamierte Leiche, dann ein Haufen Asche. Darum nutze das Heute so wie du sollst, dann scheidet es sich leicht: wie die Olive, wenn sie reif geworden abfällt – preisend den Zweig, an dem sie hing, dankend dem Baum, der sie hervorgebracht!

XLIX.

Wie der Fels im Meere, an dem die Wellen unaufhörlich rütteln, steht, so dass ringsum der Brandung Ungestüm sich legen muss, so stehe auch du! Nenne dich nicht unglücklich, wenn dir ein „Unglück“ widerfuhr! Nein, sondern preise dich glücklich, dass, obwohl es dir widerfahren ist, der Schmerz dir doch nichts anhat und weder Gegenwärtiges dich mürbe machen, noch die Zukunft dich ängstigen kann.

Jedem könnte es begegnen, aber nicht jeder hätte es so ertragen. Und warum nennst du das eine ein Unglück, das andere ein Glück? Nennst du nicht das ein Unglück für den Menschen, was ein Fehlgriff seiner Natur ist? Aber wie sollte das ein Fehlgriff der menschlichen Natur sein können, was nicht wider ihren Willen ist? Und du kennst doch ihren Willen? Kann dich denn irgendein Schicksal hindern, gerecht zu sein, hochherzig, besonnen, klug, selbständig in deiner Meinung, wahrhaft in deinen Reden, sittsam und frei in deinem Betragen, hindern an dem, was, wenn es vorhanden ist, so recht dem Zweck der Menschennatur entspricht? So oft also etwas Schmerzhaftes dir nahe tritt: denke, es sei kein Unglück; aber ein Glück ist, es mit edlem Mut zu tragen.

Mark Aurel über die Relativität der Zeit

L.

Es ist zwar ein lächerliches aber wirksames Hilfsmittel, wenn man den Tod verachten lernen will, sich die Menschen zu vergegenwärtigen, die mit aller Inbrunst am Leben hingen. Denn was war ihr Los, als dass sie „zu früh“ starben? Begraben liegen sie alle, die Fabius, Julianus, Lepidus oder wie sie heißen mögen, die allerdings so manche andere überlebten, dann aber doch auch an die Reihe mussten. Wie klein ist dieser ganze Lebensraum, und unter wieviel Mühen, mit wie schlechter Gesellschaft, in wie zerbrechlichem Körper wird er zurückgelegt! Es ist nicht der Rede wert. Hinter dir eine Ewigkeit und vor dir eine Ewigkeit: dazwischen – was für ein Unterschied ob du drei Tage oder drei Jahrhunderte zu leben hast?

LI.

Immer wandle den kürzesten Weg, den du zu gehen hast! Er ist der natürliche. Man folgt da im Reden und Tun nur der gesunden Vernunft. Du wirst dich auf diese Weise von mancher Sorge und von manchem Ballast befreien.

Mark Aurel: Selbstbetrachtungen. Fünftes Buch.


I.

Früh, wenn es dir leid tut schon aufgewacht zu sein, sage dir gleich, du seist erwacht, dich menschlich zu betätigen. Um der Tätigkeit willen bist du geboren und in die Welt gekommen, und du wolltest schlechte Laune haben, weil du ans Werk gehen musst? Oder bist du dazu geschaffen, in den Federn liegend dich zu pflegen? Freilich ist dies angenehmer; aber bist du um des Vergnügens willen da, nicht vielmehr um etwas zu schaffen und dich anzustrengen? Sieh alle Kreaturen, die Sperlinge, die Ameisen, die Spinnen, die Bienen, wie jedes sein Werk vollbringt und jedes in seiner Weise an der Aufgabe des Ganzen arbeitet! Und du wolltest das deinige nicht tun? nicht den Weg laufen, den die menschliche Natur dir vorschreibt? Man muss doch auch ausruhen, sagst du. Freilich muss man. Doch in dem Maße, das die Natur dir selbst an die Hand gibt, ebenso wie für das Essen und Trinken. Darin aber willst du die Grenze überschreiten und mehr tun als nötig ist, nur in der Tätigkeit zurückbleiben? Da sieht man, dass du dich selbst nicht lieb hast, sonst würdest du die menschliche Natur und deren Willen lieb haben.

Mark Aurel über Arbeit als Besessenheit

Andere, die mit Liebe die Kunst betreiben, die sie gelernt haben, sind oft so versessen darauf, dass sie darüber vergessen, sich zu waschen oder zu frühstücken. Du aber ehrst die Menschheit in dir nicht einmal so hoch wie jene ihre Kunst, wie der Drechsler seine Drechselei, der Tänzer seine Sprünge, der Geizhals sein Geld, der Ehrgeizige seinen Ruhm. Denn sobald solche Leute ihrem Beruf mit Eifer hingegeben sind, liegt ihnen am Essen und Schlafen weit weniger, als daran, dass sie es weiter bringen in dem, was ihres Amtes ist. Und du bist imstande, das für andere Tätigsein abzulehnen und eines solchen Eifers nicht für wert zu halten?

Mark Aurel über schlechte Gedanken

II.

Es ist wahrlich nicht so schwer, jeden beunruhigenden und unziemlichen Gedanken, der sich aufdrängt, wieder loszuwerden und zu vergessen, so dass die vollkommene Stille und Heiterkeit des Gemüts gleich wiederhergestellt ist.

III.

Erkenne, dass du allen menschlichen Dingen in Wort und Werk würdig bist, und lass dich von keinem Tadel oder stichelnden Rede, die andere dir nachsagen, beschwatzen. Was edel ist zu sagen und zu tun, dessen bist du niemals unwürdig. Jene haben ihre eigenen Grundsätze, denen sie folgen, und ihren eigenen Sinn. Darauf darfst du keine Rücksicht nehmen, sondern musst den geraden Weg gehen, den deine und die allgemein menschliche Natur dir vorschreibt. Und es ist in der Tat nur ein Weg, den diese beiden dir weisen.

IV.

So lass uns durchs Leben gehen, bis wir sterben und uns zur Ruhe begeben, den Geist dahin aushauchend, von wo wir ihn tagtäglich eingesogen, dahin zurücksinkend, woher der Keim zu unserm Dasein stammt, woher wir durch so viele Jahre Speise und Trank nahmen, was uns durchs Leben trug und wovon wir oft genug einen schlechten Gebrauch gemacht haben.

V.

Dein Scharfsinn ist es nicht, weswegen man dich bewundern muss. Aber gesetzt auch, er könnte dir nicht abgesprochen werden, so wirst du doch einsehen müssen, dass vieles andere mehr in deiner Natur liegt. Und dies ist es nun, was du vor allem pflegen und kundgeben musst, z.B. deine Lauterkeit und deinen Ernst, und deine Abneigung gegen sinnlichen Genuss, deine Zufriedenheit mit deinem Schicksal, deine M&aulm;ßigkeit, Güte, Freisinnigkeit, Einfachheit, dein gesetztes würdevolles Wesen. Und fühlst du nicht, was du alles hättest sein kännen? was deine Natur und angeborenes Geschick so wohl zugelassen hätten, und bist es dennoch schuldig geblieben? Oder war es die Mannhaftigkeit deiner Naturanlage, was dich „zwang“, unzufrieden zu sein und kleinkariert und ein Schmeichler, ein Feind oder Sklave deines eigenen Leibes, ein eitler und ehrgeiziger Mensch? Wahrlich, nein. Du könntest längst von diesen Fehlern frei sein. Ist es aber wahr, dass du von Natur etwas träe bist und Dinge nur langsam begreifst, so gilt es auch darin sich anzustrengen und zu üben, nicht, diese Schwäche unberücksichtigt zu lassen oder gar sich darin zu gefallen.

Mark Aurel über die Anrechnung von Gefallen

VI.

Es gibt Menschen, die, wenn sie jemand einen Gefallen getan haben, dies gleich als ein Zeichen ihrer Gunst angesehen haben wollen; ferner solche, die, wenn sie auch nicht gerade solche Ansprüche erheben, doch sehr genau wissen wollen, was sie getan haben, und den, dem sie wohlgetan, bei sich selbst wenigstens als ihren Schuldner betrachten; endlich solche, die gewissermaßen nicht wissen, was sie taten – dem Weinstock gleich, der seine Trauben trägt und nichts weiter will, nachdem er die ihm eigentümliche Frucht einmal hervorgebracht hat. Das Pferd, das seinen Weg gelaufen ist, der Hund, der das Wild erjagt, und die Biene, die ihren Honig bereitet hat, erhebt kein Geschrei, ruft niemand zu: seht, das habe ich getan, sondern geht gleich zu etwas anderem über, wie der Baum wieder neue Früchte ansetzt zu seiner Zeit. Und so soll es auch beim Menschen sein, wenn er ein gutes Werk vollbracht hat. Also wirklich, zu denen soll man gehören, die, was sie tun, gleichsam auf unbegreifliche Weise tun? Ja; aber dass wir zu ihnen gehören, soll man begreifen! Du sagst: ein Wesen, das zur Gemeinschaft geboren ist, müsse doch wissen, wenn es seiner Bestimmung gemäß, d.i. wenn es für andere handelt, und wahrlich doch auch wollen, dass dies der andere merke. Wohl wahr, aber du machst davon nicht die richtige Anwendung, und darum bist du nun einmal einer von denen, die ich eben beschrieben habe, denn auch bei jenen ist es der Schein von Wahrheit, der sie irre leitet. Jedenfalls aber würdest du mich missverstehen, wenn du aus irgendeinem Grunde es unterlassen wolltest, etwas zum Wohle anderer zu tun.

VII.

Die Athener beteten: „Regne, regne, lieber Zeus, auf die Aecker und Wiesen der Athener!“ Und man bete entweder gar nicht oder nur in dieser Weise, einfältig und ohne Kunst.

Marc Aurel über den Arzt und die Natur

VIII.

Gerade, wie man sagt, dass der Arzt dem einen das Reiten, dem andern kalte Bäder, dem dritten barfuss zu gehen „verordnete“, ebenso muss man auch sagen, dass die Natur bald Krankheit, bald Verletzung, bald schmerzliche Verluste zu „verordnen“ pflegt. Dort wendet man den Ausdruck an, um zu bezeichnen, dass er den Menschen jene Mittel als der Gesundheit entsprechend gegeben habe, und hier gilt es ja auch, dass alles das, was einem widerfährt, ihm als dem allgemeinen Schicksal entsprechend gegeben wird.

Mark Aurel über: dem Schicksal fügen

Ebenso brauchen wir von unsern Schicksalen den Ausdruck „sich fügen“, wie ihn die Baumeister brauchen von den Quadern, die bei Mauer- oder Pyramidenbauten sich schönstens zusammenordnen. Denn durch alles geht eine große Harmonie. Und wie im Reiche der Natur die Natur eines Einzelwesens nicht begriffen werden kann außer im Zusammenhange aller andern Einzelwesen, so auch auf dem Gebiete des Geschehens kein einzelner Umstand und Grund abgesehen von allen übrigen: was denn auch der Sinn jener vulgären Ausdrucksweise ist, wenn man sagt: es „trug sich zu“, oder, es war ihm „beschieden“. Lasset uns also dergleichen hinnehmen, wie jene nahmen, was Aeskulap ihnen verordnet; denn auch davon war manches bitter und wurde süß nur durch die Hoffnung auf Genesung. Dieselbe Bedeutung aber, welche für dich deine Gesundheit hat, muss auch die Erfüllung und Vollendung dessen für dich haben, was im Sinne des Universums liegt, und du musst alles, was geschieht, und wäre es auch noch so wenig freundlich, willkommen heißen, weil sein Ziel ja nichts anderes ist als die Gesundheit der Welt, das Glück und Wohlbefinden des höchsten Gottes. Hätte es sich doch gar nicht zugetragen, wenn es nicht für das Ganze zuträglich gewesen wäre; hätte es doch kein Zufall so gefügt, fügte es sich nicht harmonisch in die Verwaltung aller Dinge. Also zwei Gründe sind, weshalb dir dein Schicksal gefallen muss. Der eine: weil es „dein“ Schicksal ist, weil es dir verordnet ward mit Rücksicht auf dich – von oben her in ursächlicher Verkettung mit dem ersten Grunde. Der andere: weil es der Grund des vollkommenen Glückes, ja auch des Bestehens dessen ist, der alles regiert. Denn es ist eine Verletzung des Ganzen in seiner Vollständigkeit, wenn du den geringsten seiner Bestandteile – und seine Bestandteile sind immer auch zugleich Ursachen – aus seiner Verbindung und seinem Zusammenhang reißt. Und – soweit das in deiner Hand steht, löst und trennst das Zusammengehörige, sobald du dein Schicksal beklagst.

Mark Aurel über die Philosophie als Heilmittel

IX.

Du darfst nicht unwillig werden, den Mut nicht sinken lassen oder gar verzweifeln, wenn es dir nicht vollständig gelingt, immer nach richtigen Grundsätzen zu handeln. Bist du von deiner Höhe heruntergefallen, erhebe dich wieder, sei zufrieden, wenn nur wenigstens das meiste an dir nach echter Menschenart ist, und lass dich beglücken von dem, was dir von neuem gelang. Meine nicht, dass die Philosophie ein Zuchtmeister sei. Greife zu ihr nur so wie die Augenkranken zum Schwamm oder zum Ei, wie andere zum Pflaster oder zum Aufguss. Denn nichts wird dich zwingen, der Vernunft zu gehorchen. Man muss sich ihr viel mehr vertrauensvoll hingeben.
Anmerkung: Marc Aurel zeigt, dass sich niemand zur Philosophie der Stoa gezwungen werden kann. Philsophie ist Einsicht in die Natur, und Einsicht setzt Vernunft voraus.
Du weißt die Philosophie will nichts anderes, als was deine Natur auch will. Du aber hast etwas anderes gewollt, etwas ihr Widerstreitendes, weil es dir angenehmer schien. Die Lust macht uns solche Vorspiegelungen. Aber besinne dich, ob Hochherzigkeit, Freiheit des Geistes, Einfalt, Gleichmut, Sittenreinheit nicht doch das Angenehmere sind. Oder was ist angenehmer als Weisheit, wenn man darunter das nie Anstoßende, glatt Hinfließende der geistigen Kraft versteht?

Mark Aurel über die Grenzen der Wissenschaft

X.

Das Wesen und die Bedeutung der Verhältnisse dieses Lebens sind im allgemeinen in ein solches Dunkel gehüllt, dass sie nicht wenig Philosophen und nicht blo&azlig; den gewöhnlichen als völlig unbegreiflich erscheinen. Auch die Stoiker bekennen, dass sie sie kaum verstehen. Dann sind auch unsere Ansichten so höchst veränderlich. Es gibt ja keinen Menschen, der sich in seinen Ansichten gleich bliebe. Ferner was nun die „Güter“ dieses Lebens anlangt, wie vergänglich und nichtig sind sie! Können sie doch das Eigentum jedes Nichtswürdigen werden! Aber nicht minder elend steht es mit dem Geist der Zeit. Selbst die beste seiner Aeußerungen, welche Mühe hat man sie, zu ertragen, ja es kostet nicht wenig, sich selber zu ertragen. Bei solcher Taubheit und Verkommenheit der Zustände, bei diesem ewigen Wechsel des Wesens und der Form, bei dieser Unberechenbarkeit der Richtung, die die Dinge nehmen – was da der Liebe und des Strebens noch wert sein soll, vermag ich nicht zu sehen. Im Gegenteil, es ist der einzige Trost, dass man der allgemeinen Auflösung entgegengeht.

Mark Aurel über die Freiheit des Nichtstuns

Darum trage geduldig die Zeit, die noch dazwischen liegt, und beherzige nur das, dass nichts dir widerfahren kann, was nicht in der Natur des Ganzen begründet liegt, und dann: dass du die Freiheit hast, alles zu unterlassen, was wider die Stimme deines Genius ist. Denn die zu überhören kann dich niemand zwingen.

XI.

Wozu gebrauchst du jetzt deine Seele? So muss man sich bei jeder Gelegenheit fragen. Oder, was geht jetzt vor in dem Teile deines Wesens, den man den vornehmsten nennt? Oder was für eine Seele hast du jetzt, die eines Kindes oder eines Jünglings, eines Weibes, eines Tyrannen, eines zahmen oder eines wilden Tieres?

XII.

Wie es im Grunde damit steht, was bei der Menge als das Gute gilt, kann man auch daraus erkennen, dass jenes Wort eines alten Komikers: „denn für den Edlen ziemt sich solches nicht“ auf alle diese Scheingüter, wie Reichtum Luxus, Ehre, anwendbar ist (wiewohl die Leute das allerdings nicht gelten lassen wollen), während es auf wahre Güter, wie Klugheit, Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, angewendet vollkommen widersinnig wäre.

Mark Aurel über die Begrenztheit der Welt

XIII.

Woraus wir bestehen, ist Form und Inhalt. Keins von beiden aber wird ins Nichts verschwinden, so wenig wie es aus dem Nichts hervorgegangen ist. Sondern jeder Teil unseres Wesens wird durch Verwandlung übergeführt in irgendeinen Teil des Weltganzen dieser geht dann wieder in einen andern über und so ins Unendliche. Durch diesen Verwandlungsprozess erhalte ich mein Dasein, durch ihn erhielten es auch die, die mich erzeugten, und so wieder rückwärts ins Unendliche. Denn „ins Unendliche“ darf man wirklich sagen, wenn auch der Weltlauf seine fest begrenzten Zeiträume hat.

Mark Aurel: Sein eigener Richter sein

XIV.

Die Vernunft und die Lebenskunst sind Kräfte, die sich selbst genügen und die keinen andern Richter über ihre Aeußerungen haben als sich selbst. Sie haben ihr Prinzip und ihre Ziele in sich, und richtig heißen ihre Handlungen, weil durch sie der rechte Weg offenbar wird.

Mark Aurel: Selbstbetrachtungen. Fünftes Buch.


XV.

Nichts ist Sache des Menschen, was ihn als Menschen nichts angeht, was von der menschlichen Natur weder gefordert noch verheißen wird, und was zu ihrer Vollendung nichts beiträgt – was also auch kein Ziel menschlichen Strebens sein oder ein Gut, ein Mittel zu diesem Ziele zu gelangen genannt werden kann. Wäre dies nicht, so hätten wir unrecht, es als eine Pflicht des Menschen anzusehen, dergleichen Dinge zu verachten und sich ihnen zu widersetzen, und dürften den nicht loben, der ihrer nicht bedarf. Auch könnte, wenn dies Güter wären, der nicht gut sein, der freiwillig dem Genusse solcher Dinge entsagt. Nun aber sind wir in der Tat um so viel besser, je mehr wir solcher Dinge uns enthalten, und je leichter wir ihren Mangel ertragen.

XVI.

Wie die Gedanken sind, die du am häufigsten denkst, ganz so ist auch deine Gesinnung. Denn von den Gedanken wird die Seele gesättigt. Sättige sie also mit solchen wie die: dass man, wo man auch leben muss, glücklich sein könne; dass alles um irgendeiner Sache willen gemacht sei, und wozu es gemacht sei, dahin werde es auch getragen, und wohin es getragen werde, da liege auch der Zweck seines Daseins, wo aber dieser, da sei auch das ihm Zuträgliche und Heilsame. Das den vernünftigen Wesen Heilsame aber ist die Gemeinschaft. Denn zur Gemeinschaft sind wir geboren. Oder liegt es nicht auf der Hand, dass das Geringere um des Besseren willen, die besseren Dinge aber füreinander da sind? Besser aber als das Unbeseelte ist das Beseelte, und besser als dieses das Vernünftige.

XVII.

Nach dem Unmöglichen streben ist wahnsinnig; unmöglich aber ist es, dass der gemeine Mensch anders als gemein handelt.

XVIII.

Nichts geschieht uns, was zu ertragen uns nicht natürlich wäre. Bei manchen Schicksalen sind wir freilich nur aus Stumpfsinn oder aus Prahlerei standhaft und unverwundbar. Und das ist eben das Traurige, dass Gefühllosigkeit und Eitelkeit stärker sein sollen, als Einsicht!

XIX.

Die Umstände sind es nun einmal durchaus nicht, wodurch die Seele berührt wird; sie haben keinen Zugang zu ihr und können sie weder umstimmen, noch irgend bewegen. Die Seele stimmt und bewegt sich einzig selber, und je nach dem Urteil und der Auffassung zu der sie es bringen kann, gestaltet sie die Dinge, die vor ihr liegen.

Mark Aurel: Sich den hinderlichen Mitmenschen entziehen

XX.

Das Gesetz, das uns vorschreibt, den Menschen wohl zu tun und sie zu ertragen, macht sie uns zu den am meisten befreundeten Wesen. Insofern sie uns aber hinderlich werden können, das uns Gebührende zu tun, ist mir der Mensch etwas ebenso Gleichgültiges wie die Sonne, der Wind, das Tier. Nur dass sich ihrem verderblichen Einflusse ja eben entgegentreten lässt. Man entziehe sich ihnen oder suche sie umzuwandeln, so geschieht unserem Streben und unserer Neigung kein Eintrag. Auf diese Weise verwandelt und bildet die Seele ein Hindernis unseres Willens um in sein Gegenteil: was unser Werk aufhalten sollte, gestaltet sich selbst zum guten Werke, und ein Weg er&oumnl;ffnet sich eben da, wo uns der Weg versperrt ward.

XXI.

Dem, was das Beste in der Welt ist, dem Wesen nämlich, das alles hat und alles verwaltet, gebührt unsere Ehrfurcht. Nicht minder aber auch dem, was das Beste in uns ist. Es ist jenem verwandt, da ja auch in uns etwas ist, was alles andere hat und wovon dein ganzes Leben regiert wird.

XXII.

Was dem Staate nicht schadet, schadet auch dem Bürger nicht. Diese Regel halte fest, sooft du dir einbildest, dass dir ein Schaden geschieht. Ist es keiner für die Gemeinschaft, der du angehörst, dann auch keiner für dich. Und wenn es für jene keiner ist – kannst du dem Menschen zürnen, der nichts getan hat, was dem Ganzen schadet?

XXIII.

Denke recht oft daran, wie alles, was ist und was geschieht, so schnell wieder hinweggeführt wird und entschlüpft. Die ganze Materie ist ein ewig bewegter Strom, alles Gewirkte und alles Wirkende ein tausendfacher Wechsel, eine Kette ewiger Verwandlungen. Nichts steht fest. Vorwärts und rückwärts eine Unendlichkeit in der alles verschwindet. Wie töricht also jeder, der mit irgend etwas groß tut, oder von irgendeiner Sache sich hin- und herreißen läßt oder darüber jammert, als ob der Kummer nicht nur kurze Zeit währte.

XXIV.

Denke, welch ein winziges Stück des ganzen Weltwesens du bist, wie klein und verschwindend der Punkt in der ganzen Ewigkeit, auf den du gestellt bist, und dein Schicksal – welch ein Bruchteil des gesamten!

Mark Aurel: Beleidigungen ertragen

XXV.

Hat mich jemand beleidigt – mag er selbst zusehen. Es ist seine Neigung, seine Art zu handeln, der er folgte. Ich habe die meinige, so wie die Natur des Alls sie mir gegeben, und ich handle so, wie meine Natur will, dass ich handeln soll.

XXVI.

Der die Herrschaft führende Teil deines Wesens bleibe stets ungerührt von den leisen oder heftigen Regungen in deinem Fleisch. Er mische sich nicht hinein, beschränke sich auf sein Gebiet und umgrenze jene Reize in den Gliedern. Steigen sie aber auf einem anderen Wege der Mitleidenschaft zur Seele auf, die ja doch immer mit dem Leibe in Verbindung bleibt, dann ist die Empfindung eine naturgemäße, und man darf ihr nicht entgegen sein, nur dass die Vernunft nicht komme und ihr Urteil hinzufüge, ob hier etwas gut oder böse sei.

XXVII.

Lebe mit den Göttern! D.h. zeige ihnen, dass deine Seele zufrieden sei mit dem, was sie dir beschieden, dass sie tue, was der Genius will, den uns der höchste Gott als ein Stück seiner selbst zum Leiter und Führer gegeben hat. Dieser Genius aber ist der Geist, die Vernunft eines jeden.

Mark Aurel: Unvollkommenheit hinnehmen

XXVIII.

Kannst du jemand zürnen, der ein körperliches Gebrechen hat? Er kann nichts dafür, wenn seine Nähe dir widerwärtig ist. Ebenso betrachte nun auch die sittlichen Mängel. Allein der Mensch, sagst du, hat seine Vernunft, und kann erkennen, was ihm fehlt. Sehr richtig. Folglich hast du deine Vernunft auch und kannst durch dein vernünftiges Verhalten deinen Nächsten zur Vernunft bringen, kannst dich ihm offenbaren ihn erinnern, und so, wenn er dich hört, ihn heilen, ohne dass du nötig hättest zu zürnen oder zu seufzen oder hochmütig zu sein.

Mark Aurel über den Tod

XXIX.

Wie du beim Abschied vom Leben über das Leben denken wirst, so darfst du schon jetzt darüber denken und danach leben. Hindert man dich, dann scheide freiwillig, doch so, als erführst du dabei nichts Uebles. „Ein Rauch ist alles? lasst mich gehen!“ Warum scheint dir das so schwer? Solange mich jedoch nichts dergleichen wirklich zwingt, die Welt zu verlassen, will ich auch frei bleiben und mich von niemand hindern lassen zu tun, was ich will. Denn was ich will, ist entsprechend der Natur eines vernünftigen, für das Leben in der Gemeinschaft bestimmten Wesens.

XXX.

Der Geist des Alls ist gesellig. Er hat die Wesen niederer Gattung um der höheren willen erzeugt und die der höheren zueinander gefügt. Man kann es deutlich sehen, wie all sein Tun im Unterordnen und im Beiordnen besteht, wie er einem jeglichen die Stellung gab, die seinem Wesen entspricht, und die Wesen der höchsten Ordnung durch gleichen Sinn einander einte.

XXXI.

Prüfe dich, wie du bis dahin dich verhalten hast gegen Götter, Eltern, Brüder, Weib, Kinder, Lehrer, Erzieher, Freunde, Genossen und Diener; ob du bis dahin keinem unter ihnen auf ungebührliche Weise begegnet bist mit Wort und Werk. Erinnere dich, was du schon durchgemacht, und was du imstande gewesen bist zu tragen. Wie leicht ist es möglich, dass die Geschichte deines Lebens bereits vollendet, dein Dienst vollbracht ist; und wie viel Schönes hast du schon gesehen wie oft ist es dir vergönnt gewesen, Freud und Leid gering zu achten, deinen Ehrgeiz zu unterdrücken und gegen Unverständige verständig zu sein!

XXXII.

Warum betrüben rohe unerfahrene Gemüter die gebildeten und erfahrenen? Aber welche Seele nennst du gebildet und erfahren? Die, welche den Ursprung und das Ziel der Dinge und die Vernunft kennt, die das ganze Universum durchdringt und durch die ganze Ewigkeit in bestimmten Perioden alles verwaltet.

XXXIII.

Wie lange noch, und du bist Staub und Asche! Und nur der Name lebt noch, ja nicht einmal der Name; denn was ist er? Ein bloßer Schall und Nachklang. Und was im Leben am meisten geschätzt wird, ist nichtig, faul, von größerer Bedeutung nicht, als wenn sich ein paar Hunde herumbeißen oder ein paar Kinder sich zanken, jetzt lachend und dann wieder weinend.
Glaube aber und Ehrfurcht, Gerechtigkeit und Wahrheit – „zum Olymp, der weitstraßigen Erde entflohen!“
Was also hält dich hier noch fest? Alles sinnlich Wahrnehmbare ist unbeständig und immer wieder der Verwandlung unterworfen, die Sinne selbst sind trüb und leicht zu täuschen und was man Seele nennt, ein Aufdampfen des Bluts. Ein Berühmtsein in solcher Welt, wie eitel! So bleibt nur übrig, geduldig zu warten bis wir verlöschen und unsere Stelle wechseln, und bis das geschieht, die Götter zu ehren und zu preisen, den Menschen wohl zu tun, sie zu ertragen oder sich ihnen zu entziehen. Was aber außerhalb der Grenzen deines Körper- und Seelenwesens liegt, kann weder dein werden, noch dich irgend angehen.

XXXIV.

Stets kann es dir gut gehen, wenn du richtig wandelst, rechtschaffen denkst und tust. Denn von jedem denkenden Wesen, sei es Gott oder Mensch, gelten zwei Dinge: einmal, dass es in seinem Laufe von einem andern nicht aufgehalten werden kann, und zweitens, dass sein größtes Gut in der gerechten Sinnes- und Handlungsweise besteht, und sein Streben darüber nicht hinausgeht.

XXXV.

Wenn dies oder jenes, das sich ereignet, nicht meine Schlechtigkeit noch die Folge meiner Schlechtigkeit ist, noch ein Schaden, der das Ganze trifft, was kann es mir verschlagen? Nur muss man darüber im klaren sein, in welchem Falle das Ganze betroffen wird.

XXXVI.

Nie darfst du dich mit deinen Gedanken von den andern losmachen, sondern musst ihnen helfen nach besten Kräften und in dem rechten Maße. Sind sie freilich nur in unwesentlichen Dingen heruntergekommen, so dürfen sie das nicht für einen wirklichen Schaden halten. Es ist nur eine schlimme Gewohnheit. Du für deine Person mache es also immer wie jener Greis, der beim Weggehen von einem spielenden Kinde sich dessen Kreisel geben ließ, obwohl er recht gut wusste, dass es nur ein Spielzeug war. Oder wolltest du, ständest du vor dem Richterstuhl und hörtest die Frage, ob du nicht wüsstest, was es mit diesen Dingen auf sich habe, antworten: „Ja, aber sie schienen doch dem und jenem so wünschenswert?“ und dann den wohlverdienten Spruch empfangen: „Also, darum musstest auch du ein Narr sein!“

Mark Aurel: Sich selbst Glück bereiten

So sei denn endlich einmal, und gerade wenn du recht verlassen bist, ein glücklicher Mensch, also ein Mensch, der sich das Glück selbst zu bereiten weiß, die guten Regungen der Seele, die guten Vorsätze und die guten Handlungen.

Mark Aurel: Selbstbetrachtungen. Sechstes Buch.

I.

Der Stoff der Welt ist bildsam und gefügig, aber etwas Böses kann der ihn beherrschende Geist damit aus sich selbst heraus nicht vornehmen, weil Schlechtes in ihm gar nicht enthalten ist. Durch ihn kann nichts zu Schaden kommen, und es ist nichts, was sich nicht ihm entsprechend gestaltete und vollendete.

II.

Darauf darf dir nichts ankommen, ob du vor Kälte klappernd oder im Schweiß gebadet deine Pflicht tust; ob du dabei einschläfst oder des Schlafes überdrüssig wirst; ob du dadurch in schlechten oder in guten Ruf kommst; ob du darunter das Leben verlierst oder sonst etwas leiden musst. Denn auch das Sterben ist ja nur eine von den Aufgaben des Lebens. Genug, wenn du sie glücklich lösest, sobald sie dir vorliegt.

III.

Sieh auf den Grund jeder Sache! Ihre Eigenschaften dürfen deinem Blick ebensowenig wie ihr Wert entgehen.

Marc Aurels Atomlehre

IV.

In der Sinnenwelt verwandelt sich alles sehr schnell und löst sich entweder auf, wenn die Körperwelt ein Ganzes bleibt, oder zerstreut sich in Atome.

V.

Die alles beherrschende Vernunft weiß wohl, in welcher Stellung sie sich befindet und auf welche Art von Stoff sie wirkt.

Mark Aurel über die Rache

VI.

Die beste Art, sich an jemand zu rächen, ist, es ihm nicht gleich zu tun.

VII.

Darin allein suche deine Freude und Erholung, mit dem Gedanken an Gott von einer Liebestat zur andern zu schreiten!

VIII.

Das nenne ich die Seele oder das die Herrschaftführende im Menschen, was ihn weckt und lenkt, was ihn zu dem macht, was er ist und sein will, und was bewirkt, dass alles, was ihm widerfährt, ihm so erscheine, wie er es haben will.

IX.

Jedes Ding vollendet sich nach der Natur des Ganzen, nicht nach eines andern Wesens, das etwa die Dinge von außen umgibt oder eingeschlossen wäre in ihrem Innern oder gar völlig getrennt von ihnen.

Marc Aurel über Chaos und Kosmos

X.

Entweder es ist alles ein Ergebnis des Zufalls, Verflechtung und Zerstreuung, oder es gibt eine Einheit, eine Ordnung, eine Vorsehung. Nehme ich das erstere an, wie kann ich wünschen in diesem planlosen Gemisch, in dieser allgemeinen Verwirrung zu bleiben? Was könnte mir dann lieber sein, als so bald wie möglich Erde zu werden? Denn die Auflösung wartete meiner, was ich auch anfinge. Ist aber das andere, so bin ich mit Ehrfurcht erfüllt und heiteren Sinnes und vertraue dem Herrscher des Alls.

XI.

Wenn in deiner Umgebung etwas geschieht, was dich aufbringen und empören will, so ziehe dich rasch in dich selbst zurück, und gib den Eindrücken, die deine Haltung aufs Spiel setzen, dich nicht über Gebühr hin. Je öfter wir die harmonische Stimmung der Seele wiederzugewinnen wissen, desto fähiger werden wir, sie immer zu behaupten.

Vorrang der Philosophie vor dem Beruf

XII.

Wenn du eine Stiefmutter und eine rechte Mutter zugleich hättest, so würdest du zwar jene ehren, deine Zuflucht aber doch stets bei dieser suchen. Ebenso ist es bei mir mit dem Hofleben und der Philosophie. Hier der Ort, wo ich einkehre, hier meine Ruhestätte. Auch ist es die Philosophie, die mir jenes erträglich macht und die mich selbst erträglich macht an meinem Hofe.

Marc Aurel zur Physik

XIII.

Es ist gar nicht so unrecht, wenn man sich beim Essen und Trinken sagt: also dies ist der Leichnam eines Fisches, dies der Leichnam eines Vogels, eines Schweines usw. und beim Falernerwein: dies hier der ausgedrückte Saft einer Traube, oder beim Anblick eines Purpurkleides: Was du hier siehst, sind Tierhaare in Schneckenblut getaucht – denn solche Vorstellungen geben uns ein Bild der Sache, wie sie wirklich ist, und dringen in ihr inneres Wesen ein. Man mache es nur überhaupt im Leben so, entkleide alles, was sich uns als des Strebens würdig aufdrängt, seiner Umhüllung, und sehe von dem äßeren Glanze ab, mit dem es wichtig tut. Der Schein ist ein gefährlicher Betrüger. Gerade wenn du glaubst mit ernsten und hohen Dingen beschäftigt zu sein, übt er am meisten seine täuschende Gewalt.

XIV.

Die Menge legt den höchsten Wert auf den Besitz rein sinnlicher Dinge. Teils sind es Dinge von festem und natürlichem Zusammenhalt, wie Steine und Holzarten, z.B. Feigenbäume, Weinstöcke und Oelbäume. Höher hinauf fängt man an den Nutzen einzusehen, den uns die belebte Natur leistet, wie Herden von Groß – oder Kleinvieh, und noch eine Stufe höher die Brauchbarkeit der in unserm Dienst stehenden Einzelvernunft. Wer aber nichts Edleres und Höheres kennt, als das allgemeine Vernunftwesen, dem ist jenes alles geringfügig und unbedeutend. Er hat kein anderes Interesse, als dass seine Vernunft der allgemeinen Menschenvernunft entspreche und so sich jederzeit bewege, und dass er andere seinesgleichen ebendahin bringe.

XV.

Hier ist etwas, das im Werden begriffen ist, dort etwas, das geworden sein möchte; und doch ist jedes Werdende zum Teil auch schon vergangen. Dieses Fließen und Wechseln erneuert die Welt fort und fort, wie der ununterbrochene Schritt der Zeit die Ewigkeit erneuert. Wolltest du nun auf etwas, das diesem Strome angehört der nimmer still steht, einen besonderen Wert legen, so würdest du einem Menschen gleichen, der eben anfinge, einen vorüberfliegenden Sperling in sein Herz zu schließen, gerade wenn er seinen Blicken auch schon entschwunden ist. Ist doch das Leben selbst nichts anderes als das Verdunsten des Bluts und das Einatmen der Luft. Und sowie du, was du eingezogen hast, im folgenden Augenblick immer wieder hingibst, so wirst du auch dieses ganze Atmungsvermögen, das du gestern oder vorgestern empfingst, wieder hingeben.

XVI.

Nicht das ist das Wichtige, dass wir ausatmen wie die Pflanzen, einatmen wie die Tiere, oder dass wir die Bilder der Dinge in unserer Vorstellung haben, dass wir durch Triebe in Bewegung gesetzt werden, dass wir uns zusammenscharen, oder dass wir uns nähren – denn dieselbe Bedeutung hat auch das Ausscheiden der überflüssigen Nahrung; auch nicht, dass wir beklatscht werden – und die Ehre ist größtenteils nichts anderes. Sondern dass man der uns eigentümlichen Bildung gemäß sich gehen lasse oder an sich halte, worauf ja jedes Studium und jede Kunst gerichtet ist.

Mark Aurel: Gestalterisch tätig sein

Denn jede Arbeit will nichts anderes als die Dinge ihrem Zweck entsprechend gestalten, wie man am Weingärtner, am Pferdebändiger, am Lehrer und Pädagogen sehen kann. In dieser gestaltenden Tätigkeit liegt der ganze Wert unseres Daseins. Steht es damit gut bei dir, so brauchst du dir um andere Dinge keine Sorge zu machen. Hörst du aber nicht auf, auf eine Menge anderer Dinge Wert zu legen, so bist du auch noch kein freier, selbständiger, leidenschaftsloser Mensch, sondern stets in der Lage, neidisch und eifersüchtig und hinterlistig zu sein gegen die, die besitzen, was du so hochstellst, und argwöhnisch, dass es dir einer nehmen möchte, und in Verzweiflung, wenn es dir fehlt, und voll Tadel gegen die Götter. Ist es aber die Gesinnung allein, die deinen Wert und deine Würde in deinen Augen ausmacht, so wirst du dich selber achten, deinen Nebenmenschen gefallen und die Götter loben und preisen können.

XVII.

Auf und ab – ein Kreislauf ist die Bewegung der Urstoffe. Auch die Tugend geht ihren Gang, doch er ist ganz anderer Art, mehr so wie der Lauf, den das Göttliche nimmt. Mag er auch schwer zu begreifen sein: das sieht man, dass sie vorwärts schreitet.

XVIII.

Was tut man? Die Zeitgenossen mag man nicht rühmen, aber von den Nachkommen, die man nicht kennt noch jemals kennen wird, will man gerühmt werden. Ist das nicht gerade so, wie wenn es dich schmerzte, dass deine Vorfahren nichts von dir zu rühmen hatten?

XIX.

Denke nicht, wenn dir etwas schwer fällt, es sei nicht menschenmöglich. Und was nur irgendeinem Menschen möglich und geziemend ist, davon sei überzeugt dass es auch für dich erreichbar sein wird.

Mark Aurel über den Sport

XX.

Wenn uns in der Fechtschule jemand geritzt oder beim Ringen einen Schlag versetzt hat, so tragen wir ihm das gewiß nicht nach, fühlen uns auch nicht beleidigt und denken nichts Uebles von dem Menschen; wir nehmen uns wohl vor ihm in acht, aber nicht als vor einem Feinde, der uns verdächtig sein müßte, sondern nur so, dass wir ihm ruhig aus dem Wege gehen. Machten wir es doch im Leben auch so! Ließen wir doch da auch so manches unbeachtet, was uns von denen widerfährt, mit denen wir ringen. Es steht uns ja immer frei, den Leuten, wie ich es genannt habe, aus dem Wege zu gehen, ohne Argwohn und ohne Groll.

XXI.

Wenn mich jemand überzeugen und mir beweisen kann, dass meine Ansicht oder meine Handlungsweise nicht die richtige sei, so will ich sie mit Freuden ändern. Denn ich suche die Wahrheit, sie, die niemand Schaden zufügt. Wohl aber nimmt Derjenige Schaden, der auf seinem Irrtum und seiner Unwissenheit beharrt.

XXII.

Ich suche das meinige zu tun: alles übrige, alles was leblos oder vernunftlos oder seines Weges unkundig und verirrt ist, geht mich nichts an und kann mich nicht verwirren.

XXIII.

Die unvernünftigen Tiere und alle vernunftlosen Dinge, die dir, dem Vernunftbegabten zu Gebote stehen, magst du mit edlem, freiem Sinn gebrauchen. Die Menschen aber, die ebenso vernunftbegabten, brauche so, dass du auf die Verbindung Rücksicht nimmst, in der du von Natur mit ihnen stehst. Und bei allem, was du tust, rufe die Götter an, ohne dir Sorge zu machen um das „Wie lang?“, denn selbst drei Stunden Lebensfrist genüten!

Mark Aurel über die Gleichheit der Menschen

XXIV.

Alexander der Große und sein Maultiertreiber sind beide an denselben Ort gegangen. Entweder wurden sie beide in dieselben Kräfte der zu immer neuen Schöpfungen bereiten Welt aufgenommen, oder sie lösten sich beide auf gleiche Weise in ihre Atome auf.

XXV.

Bedenke, wie vielerlei in einem jeden unter uns in einem und demselben Augenblick zugleich vorgeht, sei es Leibliches, sei es Geistiges. So kannst du dich nicht wundern, wenn so viel mehr, wenn alles, was geschieht in dem einen und allen, das wir Welt nennen, zugleich vorhanden ist.

XXVI.

Wenn jemand dich fragte, wie der Name Antonin geschrieben wird, würdest du da nicht jeden Buchstaben deutlich und mit gehaltener Stimme angeben? Warum machst du es nicht auch so, wenn jemand mit dir zankt? Warum zankst du wieder und bringst deine Worte nicht ruhig und gemessen vor? Auf die Gemessenheit kommt es an bei jeder Pflichterfüllung. Bewahre sie dir, lass dich nicht aufbringen, leide den, der dich nicht leiden kann, und gehe ruhig deines Weges.

XXVII.

Welch ein Mangel an Bildung, wenn du den Menschen verbieten willst, nach dem zu streben, was ihnen gut und nützlich scheint! Und doch tust du es ja immer, wenn du dich darüber beklagst, dass sie unrecht handeln. Denn auch dabei sind sie doch stets um das bemüht, was ihnen gut und nützlich ist. Du sagst, es sei nicht so, es sei nicht das wahrhaft Nützliche. Darum belehre sie und zeige es ihnen, ohne darüber zu klagen.

XXVIII.

Der Tod ist das Ausruhen von den Widersprüchen der sinnlichen Wahrnehmungen, von den Regungen unserer Leidenschaften, von den Entwicklungen unseres Geistes und von dem Dienst des Fleisches.

Mark Aurel. Selbstbetrachtungen. Sechstes Buch.


XXIX.

Schändlich ist es, wenn die Seele in deinem Leben eher den Dienst versagt, als der Leib ermüdet ist.

XXX.

Nimm dich in acht ein Tyrann zu werden, es liegt etwas Ansteckendes in dieser Hofluft. Bewahre deine Einfalt, Tugend, Reinheit, Würde, deine Natürlichkeit, Gottesfurcht, deine Gerechtigkeitsliebe, deine Liebe und Güte und deinen Eifer in Erfüllung der Pflicht. Ringe danach, dass du bleibst, wie dich die Philosophie haben will. Ehre die Götter und sorge für das Heil der Menschen! Das Leben ist kurz. Dass es dir eine Frucht nicht schuldig bleibe: die heilige Gesinnung, aus der die Werke für das Wohl der andern fließen! Drum sei in allen Stücken ein Schüler deines Vorgängers Antonin! so beharrlich und fest wie er im Gehorsam gegen die Gebote der Vernunft, so gleichmütig in allen Dingen, so ehrwürdig und heiter und warm, auch nach Außen so freundlich, so fern von jeder Ruhmbegier und doch so eifrig, alles zu begreifen und in sich zu verarbeiten! Unterließ er doch nichts, wovon er sich nicht zuvor gründlich überzeugt hätte, dass es untunlich sei; ertrug er doch geduldig alle, die in ungerechter Weise tadelten, ohne sie wieder zu tadeln. Nichts betrieb er auf eilfertige Manier, und niemals fanden Verleumdungen bei ihm Gehör. Wie selbständig war sein Urteil über die Sitten und Handlungen seiner Umgebung! Darum war er auch gänzlich fern von Schmähsucht oder von Aengstlichkeit, von Misstrauen oder von der Sucht, andere zu schulmeistern. Wie wenig Bedürfnisse er hatte, konnte man sehen an seiner Art zu wohnen, zu schlafen, sich zu kleiden, zu speisen und sich bedienen zu lassen. Und wie geduldig war er und langmütig! Seine freundschaftlichen Verbindungen hielt er fest; er konnte die gut leiden, die seinen Ansichten offen widersprachen, und sich freuen über jeden, der ihm das Bessere zeigte. Dabei hat er die Götter geehrt, ohne in Aberglauben zu verfallen. Und so nimm ihn dir zum steten Vorbild, damit du so wie er dem Tode mit gutem Gewissen entgegengehen kannst.

XXXI.

Besinne dich, komm wieder zu dir. Wie du beim Aufwachen gesehen, dass es Träume waren, was dich beunruhigt hat: siehe auch das, was dir im Wachen begegnet, nicht anders an!

XXXII.

Für den Leib des Menschen ist alles gleichgültig, d.h. eine unterschiedslose Masse, denn er hat die Fähigkeit nicht zu unterscheiden. Aber auch für die Seele ist alles gleich, was nicht ihre eigene Tätigkeit betrifft. Alles aber, was eine Wirkung der Seele ist, hängt auch lediglich von ihr ab, vorausgesetzt, dass sie sich auf etwas Gegenwärtiges bezieht. Denn was sie zu tun haben wird oder getan hat, ist auch kein Gegenstand für sie.

XXXIII.

Keine Arbeit für meine Hände oder meine Füße ist widernatürlich, solange sie nur in den Bereich dessen fällt, was Hände und Füße zu tun haben. Ebenso gibt es für den Menschen als solchen keine Anstrengung, die man unnatürlich nennen könnte, sobald der Mensch dabei tut, was menschlich ist. Ist sie aber nichts Unnatürliches, dann ist sie gewiss auch nichts Uebles.

XXXIV.

Was sind es für Freuden, die der Ehebrecher, Räuber, Mörder, der Tyrann empfindet?

XXXV.

Siehst du nicht, wie der gewöhnliche Künstler sich zwar nach dem Geschmack des Publikums zu richten weiß, aber doch an den Vorschriften seiner Kunst festhält und ihren Regeln zu genügen strebt? Und ist es nicht schlimm, wenn Leute wie der Architekt, der Arzt das Gesetz ihrer Kunst besser im Auge behalten, als der Mensch das Gesetz seines Lebens, das er gemein hat mit den Göttern?!

Mark Aurel über Größenwahn und Nationalismus

XXXVI.

Was ist Asien und Europa? ein paar kleine Stückchen der Welt. Was ist das ganze Meer? ein Tropfen der Welt. Und der Athos? eine Weltscholle. Alles ist klein, veränderlich, verschwindend. Aber alles kommt und geht hervor oder folgt aus jenem allwaltenden Geiste.

Das Böse als Anhängsel des Guten

Und das Schädliche und Giftige ist nur ein Anhängsel des Wohltätigen und Schönen. Denke nicht, dass es mit dem, was du verehrst, nichts zu schaffen habe; sondern siehe bei allem nur immer auf die Quelle!

XXXVII.

Wer sieht, was heute geschieht, hat alles gesehen, was von Ewigkeit war und in Ewigkeit sein wird. Denn es ist alles von derselben Art und Gestalt.

XXXVIII.

Alle Dinge stehen untereinander in Verbindung und sind insofern einander befreundet. Eines folgt dem andern und bildet mit ihm eine Reihe, durch die Gemeinschaft des Ortes oder des Wesens vermittelt.

XXXIX.

Schmiege dich in die Verhältnisse, die dir gesetzt sind, und liebe die Menschen, mit denen du verbunden bist, liebe sie wahrhaft!

XL.

Jedes Werkzeug und Gefäß ist gut, wenn es imstand ist zu leisten, wozu es gemacht wurde, wenn auch der, der es verfertigte, längst fort ist. In der Natur aber tragen alle Dinge die sie bildende Kraft in sich und behalten sie, solange sie selber sind. Und um so ehrwürdiger erscheint diese Kraft, je mehr du ihrem Bildungstriebe folgst, d.h. je mehr sich alles in dir nach dem Geiste richtet. Denn im Universum richtet sich auch alles nach dem Geiste.

XLI.

Solange du etwas, was keine Sache des Vorsatzes und des freien Willens ist, für gut oder böse hältst, so lange kannst du auch nicht umhin, wenn dich ein Unfall betrifft oder das Glück ausbleibt, die Götter zu tadeln oder die Menschen zu hassen als die Urheber deines Unglücks, die vermutlich am wenigsten schuld sind, dass du leidest. Und so verführt uns dieser Standpunkt zu mancher Ungerechtigkeit. Wenden wir dagegen die Begriffe Gut und Böse nur bei den Dingen an, die in unserer Macht stehen, so fällt jeder Grund weg, Gott anzuklagen und uns feindlich zu stellen gegen irgendeinen Menschen.

XLII.

Wir alle arbeiten an der Vollendung eines Werkes, die einen mit Bewusstsein und Verstand, die anderen unbewusst. Sogar die Schlafenden nennt, wenn ich nicht irre, Heraklit Arbeiter, Mitarbeiter an dem, was in der Welt geschieht. Aber jeder auf andere Art. Luxusarbeit ist die Arbeit des Tadlers, dessen, der den Ereignissen entgegenzutreten wagt und das Geschehene ungeschehen machen will. Denn auch solche Leute braucht das Weltganze. Und du musst wissen, zu welchen du gehörst. Er, der alles Verwaltende wird sich deiner schon auf angemessene Weise bedienen und dich schon aufnehmen in die Zahl der Mitarbeiter und Gehilfen. Du aber sorge dafür, dass du nicht bist wie jener schlechte Vers im Gedicht, dessen Chrysipp gedenkt!

XLIII.

Will denn die Sonne leisten, was der Regen leistet? Will Äskulap als Fruchtspender etwas hervorbringen? Will auch nur einer von den Sternen ganz dasselbe, was der andere will? Und doch fördern alle dasselbe Werk.

XLIV.

Wenn die Götter überhaupt über mich und über das, was geschehen soll, ratschlagen, dann ist ihr Rat auch ein guter. Denn einmal, einen ratlosen Gott kann man sich nicht leicht vorstellen. Und dann, aus welchem Grunde sollten sie mir weh tun wollen? Was könnte dabei für sie oder für das Ganze, dem sie besonders vorstehen, herauskommen? Betreffen ihre Beratungen aber nicht meine besonderen Angelegenheiten so doch gewiss die allgemeinen der Welt, aus denen dann auch die meinigen sich ergeben, und die ich willkommen heißen und lieben muss. Kümmern sie sich aber um gar nichts, was wir jedoch nicht glauben dürfen – und was würde dann aus unsern Opfern, unsern Gebeten, unsern Eidschwüren und aus alle dem, was wir lediglich in der Voraussetzung zu tun pflegen, dass die Götter da sind und dass sie mit uns leben? Aber gesetzt, sie kümmerten sich nicht um meine Angelegenheiten so liegt es doch mir selbst ob, mich darum zu kümmern. Denn dazu habe ich meine Vernunft dass ich weiß, was mir dienlich ist.

Anmerkung: Marc Aurel ist sich nicht ganz sicher, ob sich die Götter um die Menschen kümmern. In jedem Falle soll sich der Mensch um seine Angelegenheiten küern

XLV.

Was überall und jedem geschieht, ist dem Ganzen zuträglich. Schon dies wäre hinreichend. Doch bei genauer Beobachtung wirst du überall auch das noch finden: Was dem einen widerfährt, ist auch dem andern zuträglich. Hier ist nämlich das Wort „zuträglich“ allgemein zu verstehen, auch von den gleichgültigsten Dingen.

XLVI.

Was du im Theater und an ähnlichen Orten empfindest, wo sich deinem Auge ein und dasselbe Schauspiel immer wieder darbietet bis zum Ekel, das hast du im Leben eigentlich fortwährend zu leiden. Denn alles, was geschieht, von welcher Seite es auch kommen mag, ist doch immer dasselbe. Wie lange wird es nur noch dauern?

XLVII.

Stelle dir immer die Gestorbenen jeden Standes, jeder Berufsart und jeden Stammes vor, steige in dieser Reihe bis zu einem Philistion, einem Phöbus und Origanion hinunter! Dann gehe zu den anderen Klassen über! Auch wir müssen ja unsere Wohnung dorthin verlegen, wo so viele gewaltige Redner, so viele ehrwürdige Philosophen, wie Heraklit, Pythagoras und Sokrates, ferner so viele Helden der Vorzeit, so viele Heerführer und Gewaltherrscher späterer Tage und außer diesen Eudorus, Hipparch, Archimedes und andere scharfsinnige, hochherzige, arbeitslustige, gewandte, selbstgefällige Geister, ja selbst jene spöttischen Verächter des hinfälligen kurzdauernden Menschenlebens, wie ein Menippus und so viele andere seiner Art verweilen. Von diesen allen stelle dir vor, dass sie längst beigesetzt sind. Was liegt nun für sie Furchtbares darin? Was denn für jene, deren Namen Ueberhaupt nicht mehr genannt werden? Da ist eines nur von hohem Wert, nämlich Wahrheit und Gerechtigkeit getreu durchs ganze Leben zu Ueben, auch im Kampf gegen Lügner und Ungerechte.

XLVIII.

Willst du dir eine Freude bereiten, so richte deinen Blick auf die trefflichen Eigenschaften deiner Zeitgenossen und siehe, wie der eine ein so hohes Maß von Tatkraft, der andere von Bescheidenheit besitzt, wie freigebig der dritte ist usf. Denn nichts ist so erquicklich als das Bild von Tugenden, die sich in den Sitten der mit uns Lebenden offenbaren und reichlich unserm Blick sich darbieten. Darum halte es dir nun auch beständig vor Augen!

Idealgewicht nach Marc Aurel

XLIX.

Aergert es dich, dass du nur so viel Pfund wiegst und nicht mehr? So sei auch nicht ärgerlich darüber, dass dir nicht länger zu leben bestimmt ist. Denn wie jeder zufrieden ist mit seinem Körpergewicht, so sollten wir alle auch zufrieden sein mit der uns zugemessenen Lebensdauer.

L.

Komm, wir wollen versuchen sie zu üeberreden! Handle aber auch gegen ihren Willen, wenn es Gerechtigkeit und Vernunft gebieten. Hindern sie uns mit Gewalt, so benutzen wir dieses Hemmnis zur Uebung in einer andern Tugend, im Gleichmut und in der Seelenruhe. Denn alles, was wir erstreben, erstreben wir ja nur unter gewissen Voraussetzungen. Halten diese nicht Stich – wer wird das Unmögliche wollen? Nur dass unser Streben ein edles war! Denn ein solches trägt seinen Lohn in sich selbst – wie alles, was wir tun, wenn wir unserer innersten Natur gehorchen.

LI.

Der Ehrgeizige setzt sein Glück in die Tätigkeit eines andern, der Vergnügungssüchtige in die eigene Leidenschaft, der Vernünftige in seine Handlungsweise.

LII.

Du hast es gar nicht nötig, dir über irgendeine Sache Gedanken zu machen und deine Seele zu beschweren. Denn eine absolute Notwendigkeit zum Urteil liegt niemals in den Dingen.

LIII.

Gewöhne dich, wenn du jemand sprechen hörst, so genau als möglich hinzuhören, und dich in seine Seele zu versetzen.

XLIV.

Was dem Schwarm nicht zuträglich ist, taugt auch nichts für die einzelne Biene.

LV.

Dem Gelbsüchtigen schmeckt der Honig bitter; der von einem tollen Hunde Gebissene scheut das Wasser; das Kind kennt nichts Schöneres als seinen Ball. Wie kannst du zürnen? Verlangst du, dass der Irrtum weniger Einfluss haben soll als eine kranke Galle, als ein dem Körper eingeflößtes Gift?

LVI.

Niemand kann dich hindern, dem Gesetze deiner eigensten Natur zu folgen. Was du im Widerspruch mit der allgemeinen Menschennatur tust, wird dir nicht gelingen.

LVII.

Wollten die Schiffsleute den Steuermann, die Kranken den Arzt schmähen, würden sie dann sonst noch auf jemand achten? Aber wie sollte jener der Mannschaft eine glückliche Landung oder dieser den Leidenden Genesung verschaffen?

LVIII.

Wie viele von denen, mit denen ich zusammen die Welt betreten habe, sind schon wieder daraus geschieden!

LIX.

Wer sind die, denen man gefallen möchte, und um welcher Vorteile willen und durch welche Mittel? Wie schnell wird die Zeit alles verschlingen und wie vieles hat sie schon verschlungen!