Was ist die Existenzanalyse? Die von Viktor Emil Frankl (1905-1997) begründete Existenzanalyse zählt zu den Methoden der Psychotherapie, einem Teilgebiet der Psychologie. Aber was ist überhaupt Psychologie und wann enstand sie als eigenständige Disziplin?
Psychologie und Psychoanalyse
Als „Lehre von der Seele“ ist die Psychologie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein Teilgebiet der Philosophie. Ihre ersten Ansätze reichen dabei bis in die griechische Antike zurück, denn bereits Thales von Milet, Anaximander, Epikur und Aristoteles machten sich Gedanken um das, was der Mensch hinter seinem Äußeren verbirgt, und was ihn doch als Menschen ausmacht.
Auch Sigmund Freud, passionierter Archäologe und profunder Kenner der griechischen Mythologie, knüpft an diese lange Tradition an und etabliert schließlich die Psychoanalyse eine eigene Disziplin. Das Wort Psychoanalse setzt sich aus den griechischen Wörtern psyche (Seele, Leben) und analysis (Zergliederung, Auflösung) zusammen, kann also in etwa mit Seelenzergliederung oder Seelenuntersuchung übersetzt werden. Freud verwendet in allen seinen Publikationen eine eigene, von griechischen Metaphern wie Trauma, Therapie oder Ödipuskomplex durchwobene Terminologie und verhilft so der Psychologie auch zu ihrer speziellen Ausdrucksweise.
Psychologie und Psychotherapie
Psychologie und Psychotherapie sind bei näherem Hinsehen sehr unterschiedliche Aufgabengebiete von Psychologinnen und Psychologen.
Die Psychologie als Wissenschaft über den Menschen verpflichtet sich nicht, aus ihren Ergebnissen bestimmte Ratschläge zu erteilen oder Hilfen anzubieten. Die Aufgabe der Psychotherapie:
Die Wiener Schulen der Psychotherapie
In Wien führt Sigmund Freud neben der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung die Mittwochsgesellschaft, eine Art psychologischen Salon, durchaus vergleichbar mit den literarischen Salons des vergangenen 18. Jahrhunderts. Aus dieser Wiener Keimzelle entwickeln sich schließlich unterschiedliche Strömungen. Als herausragend gelten neben der Psychoanalyse Sigmund Freuds die Individualpsychologie Alfred Adlers die Existenzanalyse von Viktor Emil Frankl.
Existenzanalyse und Logotherapie
Die Begriffe Existenzanalyse und Logotherapie werden oft synonym verwendet. Sie kennzeichnen aber doch recht unterschiedliche Gesichtspunkte von Frankls Theorie. Verwandt mit der Existenzanalyse ist die von Martin Heidegger und Karl Jaspers geprägte Existenzphilosophie. Ihr zentrales Thema ist die menschliche Existenz, die sich mitunter in ausweglosen Situationen befindet. Tod und Leiden, Kampf und Schuld sind Gegebenheiten, denen der Mensch unterworfen ist, die seine Möglichkeiten einschränken, und mit denen er sich doch auseinandersetzen muss, um schließlich zu sich selbst zu finden.
Logotherapie bei Viktor E. Frankl
Der Begriff Logotherapie verweist auf den helfenden Charakter von Frankls Ansatz. Das Wort Logo entstammt hierbei dem altgriechischen logos, das mit Wort, Vernunft, Lehre und Sinn eine Fülle von Bedeutungen tragen kann. In Frankls Logotherapie ist Sinn die beste Übersetzung, den die Aufgabe des Therapeuten ist es, den Patienten dabei zu unterstützen, in seinem Leben einen Sinn zu erkennen.
- Die Psychotherapie sieht sich an der Seite von Patienten und möchte Linderung verschaffen.
- Während der Arzt den Körper des Leidenden behandelt, richtet sich das Bemühen des Psychotherapeuten auf eine Heilung der menschlichen Seele.
Viktor E. Frankl: Sinn des Lebens
Die Logotherapie ist eine idealistische Therapie, die den Menschen im Gegensatz zur klassischen Psychologie nicht primär in das Dunkle, Unbewusste führt. Frankl ist kein Vertreter einer konservativen, wertorientierten Weltanschauung. Dennoch erkennt er an, dass es Werte gibt, und der Mensch nach ihnen strebt. Durch die Verwirklichung der Werte erlebt er Sinn in seinem Leben. Allerdings müssen eine Reihe von Voraussetzungen vorliegen, damit dieses Streben gelingen kann. Schutz und Sicherheit, emotionale Zuwendung und die Entwicklung eines eigenen, originalen Selbst sind das Fundament der Sinnfindung. Die Arbeit des Psychotherapeuten beginnt da, wo diese Voraussetzungen blockiert sind. Der verunsicherte, der emotional vernachlässigte und der innerlich vereinsamte und von der Gesellschaft abgeschriebene Mensch braucht Unterstützung, um den Willen zum Sein wiederzufinden. Dieses Sein ist bei Freud von der Lust gekennzeichnet, bei Adler von der Macht, bei Frankl aber vom Sinn des Lebens.
Frankl als Neurologe und Psychiater
Frankls Leben ist in seiner ersten Hälfte ständig von existentiell bedrohlichen Situationen umgeben, zunächst für seine Patientinnen und Patienten, und schließlich auch für ihn selbst. Von 1933 bis 1937 leitet er im psychiatrischen Krankenhaus in Wien den so genannten Selbstmörderinnenpavillon, in dem jährlich mehrere tausend suizidgefährdete Frauen betreut werden. Doch seine Niederlassung als Psychiater und Neurologe im Jahre 1937 ist nicht von langer Dauer, denn schon ein Jahr später vollziehen die Nationalsozialisten den Anschluss Österreichs. Die im jüdischen Wien verwurzelte Psychoanalyse ist sofort eine Zielscheibe der neuen Machthaber, und Frankl ist wie auch Freud selbst jüdischer Herkunft.
Trotzdem Ja zum Leben sagen
Zusammen mit seiner Ehefrau Tilly und seinen Eltern wird Viktor Frankl im Herbst 1942 zunächst ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Tilly stirbt später im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Auch seine Eltern und sein Bruder kommen ums Leben. Viktor überlebt insgesamt vier Konzentrationslager, darunter Auschwitz. Seine schreckliche Erlebnisse veröffentlicht er später unter dem Titel …trotzdem Ja zum Leben sagen.
Die Dimensionen der menschlichen Existenz
Die Dimensionen der menschlichen Existenz teilt Frankl in die Bereiche Psyche, Physis und Noesis.
Die Psyche (Seele) und die Physis (Körperlichkeit) des Menschen stehen dabei immer in einem engen Zusammenhang, denn die Psyche kann den Körper ja nicht ablegen. Die Noesis (der Verstand) ist am ehesten dazu in der Lage, sich selbst gesund zu erhalten. Frankl geht dabei, im Gegensatz zur behaviouristischen Psychologie, von der Freiheit des Willens aus. Als freier Mensch ist er Gestalter seines Lebens, er bestimmt selbst trotz aller Widrigkeiten selbst die Grundkoordinaten seines Daseins. Frankl will dies in seiner Therapie den Patienten bewusst machen und so die Selbstheilungskräfte wecken.
Existenzanalyse und Philosophie
Die existentialistischen Philosophen Heidegger und Jaspers, Brüder im Geiste des existentialistischen Psychologen Frankl, schöpfen beide aus den Quellen von Sören Kirkegaard. Der dänische Theologe und Privatgelehrte und Ur-Existentialist beschreibt die menschliche Existenz in ständigen Gegensätzen: Das Entweder-Oder, so der Titel einer seiner Schriften, stellt den Menschen vor Entscheidungen, die er verantworten kann und muss. Ein bloßes sich fallen lassen in das vermeintliche Schicksal oder das Akzeptieren einer falschen Entscheidung für das eigene Leben ist für Kierkegaard eine Versündigung an sich selbst.
Mündigkeit und Psychotherapie
Die Frage nach der Mündigkeit des Patienten kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Der Streit zwischen den Verfechtern der biologischen Determiniertheit des Menschen auf der einen und der Bestimmtheit auf der anderen Seite ist so alt wie die Psychologie selbst. Die Grenzen sind dabei nicht immer klar zu erkennen. So geht die Psychoanalyse, die Wurzel der Existenzanalyse, selbst von einem eher geringen Handlungsspielraum des von der Lust determinierten Menschen aus.
Die Selbstheilungskräfte des Patienten
Zwar ist der Mensch durch seine Gene in vielen Dingen festgelegt, und er kann auch seine Biographie und seine Erlebnisse nicht einfach ablegen. Dennoch hat er die Freiheit, um zwische gut und böse zu unterscheiden und sein Leben so weit wie möglich zu gestalten. Jeder Mensch ist gleichzeitig soziales Wesen wie einmalig und original. In der Welt sucht er Sinn und Bedeutung.
Die therapeutischen Techniken
Jede gute pädagogische oder psychologische Theorie beinhaltet auch einen Weg, mit der das Ziel am besten erreicht werden kann. Frankl kombiniert dabei drei unterschiedliche Ansätze: Im sokratischen Gespräch soll dem Patienten dazu verholfen werden, seine eigenen Ideen und Gedanken zu gebären – Sokrates‘ Mutter war Hebamme und der Athener Philosoph gebrauchte schon selbst diese Metapher für einen fruchtbaren Dialog. Die Dereflexion ist eine Technik, die dem sokratischen Selbsterkennen entgegen steht. Sie dient der Verdängung und mit ihrer Hilfe hat Frankl seine Zeit in den Konzentrationslagern überlebt. Die paradoxe Intention ist eine Methode, die die Zwangsvorstellungen eines neurotischen Patienten zu unterlaufen versucht.
Das sokratische Gespräch
Sokrates übertrug das leibliche zur-Welt-bringen auf seine Art, Gespräche zu führen. Dabei bediente er sich der Mittel von Scharfsinn, Provokation und Ironie. Die Gesprächspartner wurden von Sokrates so lange in die Enge getrieben, bis sie sich zu grundlegenden Fragen nach Wertvorstellungen stellten und über ihre persönlichen Überzeugungen nachdachten. Sokrates ging davon aus, dass ein reflektierender Gedanke besser sei als ein unreflektierter, und ein unreflektiertes Leben eines Menschen nicht würdig sei.
Die Hebammentechnik
Diese verbale Hebammentechnik (Maieutik) ist auch eine Grundlagen der Existenzanalyse. Nach Frankl findet durch das sokratische Gepräch eine Klärung der eigenen Haltung statt, bei der der Patient seine Kraft zur Selbstheilung weckt. Erstes Ziel des sokratisches Gespräches ist es, die Ursache des Leidens eines Patienten in Worte zu fassen.
Die Dereflexion
Die Dereflexion geht den umgekehrten Weg des sokratischen Gesprächs. Denn die andauernde Selbstbeobachtung und Überprüfung, die so genannte Hyperreflexion, kann letztlich auch als Ursache für eine psychische Erkrankung angesehen werden. Indem sich der Patient auf angenehme Dinge konzentriert und Probleme ausblendet, richtet er seine Aufmerksamkeit nicht in destruktiver Weise auf das, was ihn krank macht.
Exkurs: Die Dereflexion im Medium Film
Das Leben ist schön (Original: La vita e bella)
- Regie: Roberto Benigni
- Hauptdarsteller:
- Roberto Benigni (Guido)
- Nicoletta Braschi (Dora)
- Giorgio Cantarini (Giosue)
- Horst Buchholz (Dr. Lessing)
- Produktionsjahr: 1997
- Auszeichnungen (Auswahl): Großer Preis 1998 in Cannes
- Europäischer Filmpreis 1998
- Deutscher Filmpreis für den besten ausländischen Film 1999
Der Vater des Regisseurs Roberto Benigni war selbst zwei Jahre im Konzentrationslager Bergen-Belsen und hat wie Viktor Frankl auch Aufzeichnungen hinterlassen. Benigni nahm dieser zur psychologischen Grundlage seiner Tragikomödie um eine junge Familie, die deportiert wurde. Der Hauptdarsteller und Lebenskünstler Guido wird dahin mit seinem Sohn Giosue in eine Konzentrationslager verschleppt, seine Frau Dora folgt den beiden freiwillig. Im Lager erklärt Guide dem Kind, dass die Menschen im Lager nur an einem Spiel teilnehmen, bei dem zwei Mannschaften um Punkte spielen. Auf die kindlichen Fragen lässt er sich immer neue Ausreden einfallen, und schließlich überlebt Giosue das Konzentrationslager ohne seelisch zugrunde zu gehen.
Die paradoxe Intention
Die Theorie der paradoxen Intention geht davon aus, dass sich ein Patient im Inneren dagegen sträubt, was er sich an Neurotischem wünscht. Daher fixiert der Therapeut nicht auf das Krankheitssymptom. Der Teufelskreis zwischen neurotischem Wunsch und Angst vor den Konsequenzen dieses Wunsches soll so unterbrochen werden. Ganz im Sinne Sokrates‘ nimmt der Therapeut eine ironische und distanzierte Haltung zum Patienten und seinem Problem ein. Ziel ist es, eine Gelassenheit zu entwickeln, die sich schließlich auf den Patienten überträgt und ihn von seiner selbst zugewiesenen Opferrolle befreit.