Das Nürnberger Universalgenie Albrecht Dürer ist heute vor allem als Maler, Zeichner und Kupferstecher bekannt. Tatsächlich übte er mit großem Erfolg noch eine ganze Reihe weiterer Tätigkeiten aus: Er publizierte Bücher zur Kunst, zur Kunsttheorie und insbesondere zur Technik der Perspektive, er betrieb Mathematik und er interessierte sich für die Astronomie. Glücklicherweise hat er alle seine Leidenschaften in seine Werke einfließen lassen.
Von der Spätgotik zur Renaissance
Dürers Bilder erschließen eine Welt, nicht nur das Auge des Kunsthistorikers fasziniert. Dürers Welt ist voller Symbolik, Mystik, Psychologie, Natur und Aha – Erlebnissen. Dürers Schaffen markiert den Übergang von der Spätgogik zur Renaissance. Der Nürnberger ist in beiden Welten zuhause, in der strengen wie in der avantgardistischen
Auf seinen Italienreisen hat er sich Techniken und Inspirationen angeeignet, nicht aber die italienischen Meister kopiert. Sein Stil bleibt trotz aller Vielfältigkeit in Technik und Motiv immmer eigen. Es ist diese spezielle Liaison aus deutscher Gründlichkeit und italienischer Verspieltheit, die Dürer so einzigartig macht. Dieser Artikel ist als kleiner Streifzug durch Dürers Welt konzipiert, und selbstverständlich als Anregung, sich die Gemälde einmal im Original zu betrachten.
Dürers Selbstportrait
Das Bild oben zeigt ein repräsentatives Selbstportrait, das Dürer im Alter von 26 Jahren malte. Die Kleidung verweist darauf, dass es der Künstler zu Wohlstand gebracht hat. Die schicke Mütze entspricht der italienischen Renaissance-Mode, die Hände sind in feinstes Wildleder gehüllt. Das offene Gewand im venezianischen Stil signalisiert ein gesundes Selbstbewusstsein. Hier ist kein Nürnberger Handwerker zu sehen, sondern ein weltmännischer Künstler. Die Berge im Hintergrund verweisen auf die Alpen, hinter denen Italien, das Eldorado der Kunst zu finden ist. Dürer hat dort geschürft und verheißt, dass er das Gefundene nicht für sich behalten wird.
Der schiefe Blick
Doch Dürers Stil wirkt niemals idealisiert oder gar verherrlichend. Der Nürnberger zeigt auf fast allen seiner Werke einen Hauch von Distanz oder Selbstironie. In seinem Portait von 1498 muss man freilich sehr genau hinsehen, um dieses Markenzeichen zu erkennen. Es ist wie auch auf vielen andern Werken Dürers in der Augenpartie zu finden: Der Blick Dürers ist unregelmäßig, seine Augen scheinen fast zu schielen. Die vom Betrachter aus gesehen linke Pupille tritt ein Stück weit hinter das Lid zurück. Hinter der Fasssade des Italienkenners zeigt sich der Charakter des Mitteleuropäers. Er genießt an der Oberfläche – doch darunter führt er einen inneren Monolog. Dürers gepflegte, goldfarbene Lockenpracht gibt ein Gesicht frei, das nicht auf italienische Weise entrückt ist. Es liegt ein Schimmer von Melancholie im Blick des 26-jährigen. Zu diesem Charakterzug wird er in späteren Jahren ein sehr rätselhaftes Werk unter dem Titel Melencolia I schaffen.
Dürers Portraitkunst
Dürers Startbedingungen sind ideal. Seine Geburtsstadt Nürnberg gehört zu den wichtigsten und in künstlerischer Hinsicht angesehensten Städten im Reich. Für Dürers Zeitgenossen Martin Luther ist sie schlichtweg das „Auge und Ohr Deutschlands“. In der Werkstatt seines Vaters, eines Goldschmieds aus Ungarn, verbringt er seine Lehrjahre. Seine ersten Werke sind noch im spätgotischen Stil, schnell bekannt werden seine Kupferstiche. Aber auch Holzschnitte, Zeichnungen und monumentale Gemälde gehören zu den Techniken, die Dürer, der „Meister der nördlichen Renaissance“ perfektioniert hat.
Der Meister der nördlichen Renaissance
Er steht wie Raffael und Leonardo da Vinci für den universellen Künstler, der die Kunst nicht nur vom Handwerk emanzipiert, sondern zur mit der Wissenschaft gleichrangigen Tätigkeit erhebt. Dürers Familie stirbt mit dem Meister aus. Von seinen Brüdern ist nur wenig bekannt. Albrecht heiratet 1494 Agnes Frey, die aus einer alteingesessenen Nürnberger Familie stammt. Die Ehe bleibt kinderlos.
Dürers Lehrer Michael Wolgemut
Michael Wolgemut war vor Dürers Auftreten der bedeutenste Künstler in der Metropole Nürnberg. Bekannt wurde er unter anderem durch die Anfertigung von Illustrationen für die Schedel’sche Weltchronik von 1493. Hierzu benutzte er die Technik des Holzschnitts. Dürers wohl berühmtester Holzschnitt, die „Darstellung des liegenden Weibes“ veranschaulicht die Technik der perspektivischen Zeichnung auf sehr pikante Weise.
Dürers Naturstudien
Der „Feldhase“ ist die bekannteste Naturstudie von Albrecht Dürer. Gleich auf den ersten Blick schmeichelt das Bild dem Auge. Gleichzeitig erscheint es wenig originell, fast naiv, wirkt eher wie ein sorgfältig gezeichnetes Bild für ein illustriertes Tierlexikon. Was also ist eigentlich das Besondere an diesem Bild? Oder ist es gar überschätzt?
Der Reiz des Bildes liegt in der Spannung zwischen Objekt und Darstellung. Normalerweise ist der Hase ein unruhiges Tier. Wer ihm beobachtet, sieht ihn in rennen und Haken schlagen. Dürer aber hat es geschafft, aus dem Hasen eine Art Stillleben im Freien zu zaubern. Das Tier scheint sich dem Willen des Künstlers und natürlich auch des Betrachers zu beugen, einen Moment inne zu halten.
Der Blick des Hasen
Ein Auge und einen Löffel hat uns das scheue Tier sogar zugewandt: Vom Betrachter aus links gesehen blickt uns ein Auge an, auch der linke Löffel ist abgeknickt. Der Hase nimmt uns wahr, und dadurch zieht uns in seinen Bann. Seine Läufe ruhen, aber sein Buckel zeigt uns, dass er zum Sprung bereit ist. Ruhe und Dynamik sind auf meisterliche Weise vereint, und der Zustand der Ruhe scheint jederzeit umschlagen zu können.
Das Fell des Hasen
Die lebensnahe Darstellung glänzt durch Detailfreude. Das Haarkleid ist sein fein und rhythmisch ausgearbeitet, trotz des kurz angesetzten Pinselstrichs. Das Dreiviertelprofil gibt viel Preis. Die feinen Fibrillen des Auges heben sich – vom Betrachter rechts gesehen – vor dem neutral gehaltenen Hintergrund gut ab, ebenso die langen Wahrnehmungsorgane um das Maul. Dürer schafft in seinem Bild des Feldhasen einen gelungenen Spagat zwischen anatomischer Exaktheit und andächtiger Naturbetrachtung.
Das Fensterkreuz
Das Schöne an den Werken Dürers ist, dass sie der Nachwelt immer wieder neue Rätsel aufgeben. Die Zunft der Kunstgeschichtler zehrt hiervon gerne! Im linken Auge des Hasen befindet sich die Spiegelung eines Fensterkreuzes. Recht deutlich sind links und rechts zwei helle Fensterflügel zu erkennen. Zumindest der rechte Flügel scheint noch einmal in ein oberes und ein unteres Fenster geteilt zu sein sein. Die Botschaft des Fensterkreuzes ist bis heute unklar.
Von der Ästhetik zur Zoologie
Die Studien im Spannungsfeld zwischen der wissenschaftlich exakten Darstellung und dem Naturgemälde, das die Ehrfurcht vor dem Leben erhöht, verweisen auf Dürers behutsames Vorgehen. Er tastet sich vorsichtig an ein Objekt heran, beginnt mit der Ästhetik (griech: Wahrnehmung) des Ganzen und führt langsam in die Welt der Naturwissenschaft hinüber. Dabei bewahrt er sich stets eine letzte Distanz, er versucht die Annäherung, ohne Besitz zu ergreifen. Er präsentiert seine Tiere nicht ausgestopft, er lässt sie am Leben. Trotzdem gelingt ihm eine ungemein naturgetreue Darstellung, die allen Kriterien eines Zoologen gerecht wird. Und Dürer ist Humanist im Wortsinn. Den Menschen hebt er über die Tier- und Pflanzenwelt empor. Den Blick für das Subjektive reserviert für auf die Menschheit. Der Feldhase bleibt ein beliebiges Muster seiner Gattung.
Kunst und Wissenschaft
Kunst und Wissenschaft
Wie Leonardo da Vinci erhebt auch Dürer die Forderung nach einer Aufhebung der Trennung von Kunst und Wissenschaft. Sein persönlicher Beitrag besteht darin, den analysierenden Blick auf die Dinge herauszufordern. Im Unterschied zu Leonardo da Vinci seziert er seine Objekte dabei nicht, sondern lässt das Gefüge existent.
Adam und Eva
Was Schönheit ist, das weiß ich nicht
Albrecht Dürer
Dieses Zitat von Albrecht Dürer steht wie kein anderes für seinen Drang nach Perfektionismus in der Darstellung des Menschen. 1507 gelingt ihm ein großformatiger Akt (Öl auf Kiefer), der im Raum nördlich der Alpen bis dahin einzigartig ist. Die beiden 209 x 81 bzw. 83 cm großen Tafeln beginnt und vollendet er 1507, noch ganz im Eindruck seiner Italienreise. Dürer hebt das Bild aus dem traditionellen christlichen Kontext heraus. Seine Darstellung zeigt zwar detailreich die Übertretung des göttlichen Verbotes, vom Baum der Erkenntnis zu speisen, doch die gesamte Szenerie verweist deutlich auf ein zweites Motiv: Eva, die von der Schlange zum Naschen der verbotenen Frucht verleitet wurde, spielt mit ihren erotischen Reizen. Was hatte der Meister nun mit dieser Akzentverschiebung im Sinn? Dürer lebt in einer Umbruchszeit, in einer Zeit der Verwerfung der alten, mittelalterlichen Welt mit ihrer ganzen Strenge und dem absoluten Deutungsanspruch der Kirche.
Renaissance und Reformation
Die neuen gesellschaftlichen Strömungen seiner Zeit heißen Renaissance und Reformation. Dürer vermengt in Adam und Eva beides. Die Renaissance, also die Wiedergeburt der nicht nur in künstlerischer Hinsicht freieren Antike, trifft auf eine neue christliche Bewegung, die die Auslegung der biblischen Überlieferung nicht mehr ausschließlich den kirchlichen Amtsträger überlässt. Im hohen Mittelalter war es für die Christen zeitweise mit einer Gefahr von Leib und Leben verbunden, die Bibel „ohne Mandat“ in die Hand zu nehmen. Der Papst und Kreuzzügler Innozenz III. hatte in seinem Kampf gegen die Glaubensrichtungen der Waldenser und der Katharer im Jahr 1199 das Verbot der Bibellektüre bei nichtkirchlichen Treffen erlassen. Allen Laien wurde der Besitz von Bibelübersetzungen verboten. Zwischen der Welt von Innozenz und Albrecht Dürer liegen mehr als nur 300 Jahre.
Der Baum der Erkenntnis
Nach dem Alten Testament setzte Gott Adam in den Garten Eden, und sprach: „Iss von jedem Baum im Garten, mit Ausnahme des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse, denn wenn du von diesem isst, wirst du sterben.“ Dann versenkte Gott Adam in Schlaf, nahm eine seiner Rippen und erschuf Eva als Gefährtin. Die Schlange sprach zu Eva:
„Gott hat euch verboten vom Baum zu essen, damit eure Augen nicht aufgetan werden und damit ihr nicht Gut von Böse unterscheiden könnt.“ Darauf aß Eva vom Baum und gab Adam, der ebenfalls aß; ihre Augen wurden aufgetan, sie wurden gewahr, dass sie nackt waren und bedeckten sich mit Blättern. Als Folge dieser Tat wurden sie von Gott getadelt. Er sagte zu Adam: „Hast du vom verbotenen Baum gegessen?“ Adam antwortete: „Eva hat mich verleitet, und ich aß.“ Gott tadelte dann Eva, und sie sprach: „Die Schlange hat mich verleitet, und ich aß.“ Dafür wurde die Schlange verflucht.
Der Sündenfall
Die Schuld am Sündenfall fällt allerdings auch bei Dürer der Eva zu. Ihr Blick zeigt, dass sie sich der Schwere des Vorfalls und der Erwartung einer Strafe durchaus bewusst ist: Das ideale, ungetrübte Verhältnis zwischen Schöpfer und Mensch wird zuende sein. Die anmutige Schönheit Eva zeigt schon Sorgenfalten im Gesicht. Ihr gestreckter Zeigefinger wirkt auffordernd, gleichzeitig auch mahnend. Sie führt mit ihrer Hand den Ast des Baumes in Adams Richtung, will ihm den Tabubruch erleichtern, ihn aber auch beteiligen, mitschuldig machen. Adams Hände hingegen spiegeln Zögern und Zurückhaltung wider.
Die verführende Haltung Evas und die noch unentschiedene Haltung Adams sprechen den Betrachter unmittelbar an. Er erwartet gespannt auf die Entscheidung Adams. Das Bild strömt eine ungeheure Dynamik aus. Unterstützt wird dies durch die Aufteilung in zwei Hälften. Man spürt, wie Adam aus seiner Hälfte heraustreten möchte, um Evas Verlangen nachzukommen.
Dürers Reminiszenz an die italienischen Meister
Bei einem Vergleich zwischen Sandro Botticellis Venus und Albrecht Dürers Eva fällt auf, wie eigenwillig Dürer die italienische Verspieltheit in unsere kühleren Breiten nördlich der Alpen übertragen hat. Siehe hierzu die Bildmontage unten! Botticellis Venus zeigt sich der Welt entrückt und idealisiert. Ihre Brust hält sie vor den Blicken mit der Hand bedeckt.
Dürers Karikatur der Venus
Dürers Eva karikiert Boticellis Venus geradezu. Auch ihre Haare wehen im Wind, allerdings in einer anderen Richtung. Er übernimmt auch eine Strähne die auf der „Windseite“ vor dem Hals auf die Brust herunterhängt: Bei Venus ist diese Strähne füllig, bei Eva besteht sie nur aus wenigen Haaren. Auch Evas Kopf ist zur Seite geneigt, allerdings etwas geringer. Ihre Brust zeigt Eva offen und selbstbewusst.
Die Venus von nebenan
Dürers Schönheit ist nicht entrückt, sondern entspricht einer Portraitzeichnung, wie sie der Nürnberger Meister in seiner Heimatstadt reichlich angefertigt hat. Botticellis Venus bleibt dem Mythos auch dann verbunden, wenn ihr Gesicht isoliert betrachtet wird. Dürers Eva wird dagegen ohne den biblischen Kontext zur Frau von nebenan.
Dürers Adam und Eva besichtigen
Albrecht Dürers lebensgroße Aktbilder befinden sich nach seinem Tod zunächst im Rathaus zu Nürnberg, von dort gelangen sie später nach Prag. Während des 30-jährigen Krieges werden sie als Beute der Schweden nach Stockholm gebracht. 1654 werden sie von der schwedischen Königin Christiana an das spanische Königshaus zu Phillip IV. weitergegeben. Heute kann das Werk im Madrider Prado besichtigt werden.
Melencolia I
Im Alter von 43 Jahren fertigt Dürer mit seinem Kupferstich Melencolia I ein sehr allegorienreiches Werk an, dessen Interpretation bis heute nicht abgeschlossen ist.
Um das Bild zu erfassen, braucht es ein wenig Zeit, denn es tummeln sich um die große Figur rechts und die kleine Figur in der Bildmitte eine Reihe von Gegenständen und obskuren Wesen. Letztere sind nicht immer leicht zu finden. Schon der Bildtitel Melencolia I, links oben zu erkennen, wird von einem seltsamen geflügelten Tier auf einem Spruchband präsentiert. Was das Tier genau darstellen soll, ist nicht klar zu erkennen. Schon einfacher hat es der Betrachter mit dem Hund links unten. Er könnte zwar auf den ersten Blick mit einem Schaf verwechselt werden, doch das würde nicht zur Bildkomposition passen. Der Hund ist schließlich in der Welt des Mittelalters ein klassischer Begleiter es Philosophen. In seiner schläfrigen Art steht er im Einklang mit dem Bildthema der Melancholie. Doch dem Tier scheint die Gemeinschaft nicht zuträglich zu sein. Man erkennt es an den Knochen, die durch das Fell ragen – er ist dem Hungertod nahe.
Die Hauptperson
Die weibliche Hauptperson sitzt auf einer kleinen Stufe und trägt Flügel. Die mächtigen Schwingen scheinen sie aber eher zu bedrücken, als in den Himmel empor zu erheben. Denn gleichzeitig zur Flügel – Allegorie verwendet Dürer die klassische Denkerpose für die Körperhaltung: Kopf, Arm und Knie sind aufeinander gestützt, der Gesichtsausdruck ist markant und von innerer Unruhe und Schwere geprägt. Wie bei sehr vielen Werken Dürers spielt die Augenpartie eine wichtige Rolle. Die schwarzen Ränder und der scharfe Kontrast zu den weißen Augäpfeln kennzeichnen einen suchenden Blick.
Der Blätterkranz
Auf ihrem Haupt trägt sie einen Blätterkranz, um den die Kunsthistoriker viele Deutungen versucht haben. Möglicherweise ist er aus Heilkräutern gegen die Melancholie geflochten, vielleicht aber als allgemeines Symbol der Gelehrsamkeit gewählt. Die Bildkomposition lässt viele Schlüsse zu. Es existiert die These, dass Dürer wie einst Aristophanes in seinen „Wolken“ die Weisheit als verspottet: Aristophanes hatte Sokrates zwischen Himmel und Erde in einem Wolkenkuckucksheim angesiedelt. Die Flügel der Figur sprechen dafür, dass Dürer auf die Tragik des antiken Philosophen Bezug nimmt – der weiseste Mensch wurde vom Athener Gericht zu Tode verurteilt.
Ein verdrießlicher Putto
Der Putto in der Bildmitte sitzt auf einem Mühlstein. Als Unterlage hat er sich ein Tuch gegönnt, hat es also nicht ganz unbequem. Im Gegensatz zur Hauptfigur wirkt er geschäftig, freilich wenig intelligent, übellaunig, wie ein unerwünschter Begleiter. Was er da wohl schreiben mag, ob es von Belang ist? Ein Vergleich drängt sich auf: In Franz Kafkas „Schloss“ gibt mannigfaltig eifrige Bürokraten, die fleißig wie sinnlos ihr Tagesgeschäft verrichten, unser Putto hätte wohl auch dort seinen Platz gehabt. Die Hauptperson würdigt ihn jedenfalls keines Blickes – und der Putto gibt diese Ignoranz zurück. Seine Augen sind gar nicht erkennbar. Zwar befindet er sich in der Mitte der Bildes, aber unser Blick prallt ab. Die Figur verweist den Betrachter auf die vielen Gegenstände um ihn herum. Doch auch diese geben dem Auge keinen Halt, zu chaotisch sind sie angeordnet. Die Puttenfiguren, wie sie Dürer auf seinen Italienreisen studiert hat, hier sind sie ins Gegenteil gedreht. Das erheiternde Antlitz ist dem verdrießlichen Blick gewichen. Unterstrichen wird dies noch durch die eigenwillige Ausleuchtung des Kupferstichs. Im Vordergund und oben links hat Dürer Licht in das Bild gelassen. Die Mitte aber bleibt dunkel.
Der Schlüssel
Zum Schlüssel, der an einem Gürtel der Hauptperson herunterhängt, gibt es eine erhalten gebliebene Notiz aus einer Skizze Dürers:
„Schlüssel betewt gewalt, pewtell betewt reichtum“. Die Übersetzung fällt nicht schwer: Schlüssel bedeutet Gewalt, Beutel (Geld) bedeutet Reichtum. Der Schlüsselbund hängt recht lose am Gürtel, ein Dieb könnte sich diese Gelegenheit schnell zu nutze machen. Anscheinend schätzt die Hauptperson die ihr übertragene Verantwortung gering. Als Hüterin der Macht verweigert sie sich, das Auseinanderbrechen der Ordnung nimmt sie teilnahmslos in Kauf. Das Chaos um sie herum wird sich weiter ausbreiten.
Das Zahlenquadrat
Das Zahlenquadrat in Bild Melencolia ist ein Meisterwerk des Mathematikers und Mystikers Dürer. Die Summe aller Geraden und Diagonalen ergeben die Zahl 34, zudem ergeben die vier Ecken 34, ebenso wie die vier zentralen Felder. Viele weitere symmetrische Anordnungen sind möglich, um die 34 zu erhalten. In der Mitte der untersten Reihe steht das Entstehungsdatum des Bildes, 1514. Dreht man die Zahl 34 um, so ergibt sich das Alter Dürers, in welchem er das Bild schuf. Die Melencolia kann so gedeutet werden, dass Dürer den gesamten Prozess der menschlichen Wissensgenerierung in Frage stellen wollte. In der Sprache von Goethes Faust hieße dies: „Und sehe, dass wir nichts wissen können“. Was bleibt ist ein Chaos, ein Sammelsurium von Gegenständen, die ihren zweck nicht mehr erfüllen. Der Zirkel in der Hand der Hauptfigur, das Symbol der Astronomen, wird achtlos gehalten. Gleiches gilt für die Kugel vorne links, sie liegt scheinbar zufällig herum. Zu Füßen der Hauptperson liegen allerlei Gegenstände des Handwerks. Hobel und Säge, Richtscheit, Zange, Nägel, ein Streichmaß. Sie sind typisch für Dürers blühende Heimatstadt Nürnberg, aber nun verstreut und liegen gelassen. Die Leiter, Gerätschaft des Baumeisters, steht fern im Bildhintergrund und ist so seltsam angelehnt, dass man sie nicht erklimmen möchte.
Gesamtinterpretation der Melencolia
Dürer hat in diesem Bild auch einen Gegenpol zu seinen christlichen Allegorien geschaffen. Die Melencolia ist weltlicher Natur, und sie führt uns in ein aufgeklärtes Fegefeuer. Was Sokrates in Worte fasste, hat Dürer illustriert:
Dem menschlichen Verstand soll man nicht naiv trauen. Zur düsteren Ausgestaltung des Bildes hat sicherlich auch ein persönliches Schicksal beigetragen: Die Mutter Dürers stirbt nach schwerer Krankheit im Entstehungsjahr 1514. Das rätselhafte Bild ist 2024, nach genau 510 Jahren, noch nicht entschlüsselt.
Was ist Melancholie?
Nach der von Hippokrates entwickelten Temperamentenlehre unterscheiden sich die Menschen in die Typen des Sanguinikers, des Cholerikers, des Phlegmatikers und des Melancholikers. Der Melancholiker steht hierbei für die Tiefgründigkeit, Nachdenklichkeit, Skepsis und Trägheit.
Albrecht Dürer: Der Zeichner des liegenden Weibes
Das obige Bild mit dem Titel „Der Zeichner des liegenden Weibes“ gelangt über einen eher indirekten Wege zur Berühmtheit. Es handelt sich nämlich nicht um ein Kunstwerk, das an einen gewöhnlichen Betrachter gerichtet ist, sondern „lediglich“ um einen Holzstich zur Illustration eines Fachbuchs. Doch Dürers „Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt“, 1525 erstmals veröffentlicht, erreicht einen Kreis, der weit über die Fachwelt hinausgeht. Die Illustration mit der Größe von nur 7,5 auf 21,5 cm vereint Sujets, die eigentlich nicht zueinander passen. Es geht gleichermaßen um Voyeurismus wie um eine Zeichentechnik: Und Dürers Coup gelingt prächtig. Das Motiv hätte als großes Ölgemälde vermutlich einen großen Skandal ausgelöst.
Die Zentralperspektive
Dürers Interesse für die Zentralperspektive wurde in seinen vielen Auslandsreisen nach Italien, der Schweiz und der Niederlande geweckt. Während seiner zweiten Italienreise 1506 schreibt er an einen Freund, einen Lehrer zur Kunst der Perspektive gefunden zu haben. Der Perfektionist und Tüftler Dürer entwickelt daraufhin eigene Methoden und Apparaturen. Das Gitter zwischen Maler und – der Terminus sei hier erlaubt – Objekt, schafft an den Kreuzungen Fixpunkte, die auf das Zeichenblatt übertragen werden. Die Proportionen des Objekts werden dabei bewahrt und können geometrisch richtig wiedergegeben werden. Auch das menschliche Auge funktioniert nach diesem Prinzip, wird doch beim Sehen die dreidimensionale Umwelt durch die Pupille gebündelt und danach auf die zweidimensionale Netzhaut übertragen.
Die drei Fenster
Dürers Holzstich enthält drei Fenster, die wie die Pupille des menschlichen Auges funktionieren. Zwei Fenster geben den Blick auf eine Landschaft frei, die den Blick nicht eben auf sich zieht – sie ist so gewöhnlich wie die Dekoration auf dem Fensterbrett. Doch das dritte Fenster verheißt Interessanteres, führt es doch – für den Betrachter nicht einsichtig – zur intimsten Stelle des weiblichen Körpers.
Die drei Grundregeln der Zentralperspektive
- Alle senkrechten Linien in der Realität bleiben auch senkrecht in der Zeichnung.
- Alle raumbildenden waagerechten parallelen Linien in der Realität verlaufen in der Zeichnung zu den Fluchtpunkten auf der Horizontlinie.
- Linien, die in der Abbildungsebene liegen, erscheinen in wahrer Länge, Linien hinter der Abbildungsebene erscheinen verkürzt, Linien vor der Abbildungsebene erscheinen verlängert.
Vier Apostel – vier Charaktere
Albrecht Dürer hat in Anlehnung an die vom antiken Arzt Hippokrates entwicklelte Temperamentenlehre jedem Apostel einen bestimmen Charakter zugeordnet. Das Bild oben zeigt eine Montage der vier Gesichter. Von links nach rechts sind Johannes, Petrus, Markus und Paulus abgebildet. Johannes ist Sanguiniker, feurig, hoffnungsvoll und tatkräftig. Petrus nimmt die Rolle des ruhenden Phlegmatikers ein. Die Rolle des zornigen Cholerikers fällt Markus zu. Paulus ist in tiefgründiger Melancholie verhaftet. Das Werk stellt den letzten Höhepunkt in Dürers Schaffen dar. Der Meister verstirbt 1528, zwei Jahre nach der Fertigstellung.
Albrecht Dürer hat die politische Entwicklung vorausgeahnt. Sein 1507 ganz im neuen, offenen Geist angefertigter Akt von Adam und Eva zeigt noch eine uneingeschränkte Begeisterung für den gesellschaftlichen Umbbruch. Doch die Wirren der Reformation und die Verschärfungen der religiösen Spannungen – Luther hatte 1520 die päpstliche Bulle der Bannandrohung verbrannt und endgültig mit Rom gebrochen – veranlassen Dürer 1526 zu einer skeptischeren Sichtweise. In Nürnberg sind zudem wie in anderen Städten „Schwarmgeister“ zu Werke, religiöse Eiferer mit der Vision einer Verwirklichung des Gottesstaates auf Erden. Auch Georg Pencz, ein Geselle Dürers, betätigt sich politisch-religiös.
Die Täuferbewegung
Zusammen mit den Malerbrüdern Barthel und Hans Sebald Seham schließt sich Pencz nach einem Nürnbergbesuch des religiösen Revolutionärs Thomas Müntzer der radikalen Bewegung der Täufer an. Als „die drei gottlosen Maler“ werden er und seine Mitstreiter am 12. Januar 1525 gefangen genommen, einem Verhör unterzogen, und wegen Ketzerei aus Nürnberg verbannt.
Die religiösen Eiferer
Dürers überlebensgroße Figuren drücken auf dem linken Teil noch Ruhe aus: Johannes und Petrus studieren die offene Bibel, Petrus hält einen Schlüssel, das Symbol der Macht, fest in seiner Hand. Im rechten Bild beherrscht der Eifer die Szenerie. Das Buch ist geschlossen, nun sprechen die Augen des Zornes, und sie verkünden eine düstere Zukunft. Dürers Mahnung ist eindeutig, er will vor unheilbringenden Lehrern warnen. Doch seine Worte verhallen. Die einzelnen Scharmützel zwischen den Fraktionen der romtreuen Christen, aufständischen Bauern, gemäßigten Anhängern der Reformation und radikalen Schwärmern entladen sich ein Jahrhundert nach Dürers Mahnung im 30-jährigen Krieg. Die cholerischen Eiferer setzen sich durch.
Das schwierige Geschenk
Albrecht Dürer schickte die Gemälde mit einem Schreiben vom 6. Oktober 1526 als Geschenk in das Nürnberger Rathaus, wo sie wie von ihm intendiert im Zentrum der Macht, der oberen Regimentsstube aufgehängt werden. Doch der Rat der Stadt nimmt die Bilder nicht als Geschenk an, sondern besteht auf einem Ehrenhonorar von 100 Gulden.
In Nürnberg bleiben die Apostel nicht lange. Maximilian I., der bayerische Kurfürst, setzt die Stadtväter unter Druck und erwirkt eine Herausgabe der Bilder. Dabei war es der Wunsch Dürers, dass sie für alle Zeit in der Stadt blieben. Das Werk „sollte bey gemainer Statt zu sein gedechtnuß zubehalten und in frembdte händt nit kommen zu lassen“.
Zwischen der Werkgeschichte von Dürers Adam und Eva und den Vier Aposteln gibt es also ganz erstaunliche Parallelen. Beide Werke setzen sich aus zwei Hälften zusammen, stellen Personen der christlichen Überlieferung in neuer Form dar, und wurden aus Nürnberg verschleppt. Adam und Eva sind heute im Madrider Prado zu besichtigen, die Vier Apostel in der Alten Pinakothek in München.
Die Temperamentenlehre des Hippokrates
Der griechische Arzt Hippokrates entwarf die Lehre der vier Temperamente:
- Sanguiniker: Leichtblütig und von heiterer Grundstimmung.
- Choleriker: Schnell reizbar und energisch bis zum Jähzorn.
- Melancholiker: Tief und nachdenklich, beschäftigt mit der Zukunft von sich und der Welt.
- Phlegmatiker: Langsam, bedächtig und unpathetisch. Die Ruhe im Sturm.