Das Werk der Hildegard von Bingen
Das Spektrum des literarischen Werkes der Hildegard von Bingen lässt sich in drei große Bereich gliedern. Der theologische Bereich umfasst die Bücher „Liber Scivias“ (Wisse!), „Liber Vitae Meritorum (Buch der Lebensverdienste) und „Liber Vitae Operum“ (Buch der Werke Gottes). In ihnen legt sie das christliche Heilsgeschehen dar und schildert ihre Kosmologie, ihr Bild vom Werden und Sein von Welt und Mensch.
Hildegard und die Musik
Die von Hildegard zusammengestellte Liedersammlung „Ordo Virtutum“ und die „Symphonia armonie celestium revelationum“ (Symphonie der Harmonie der himmlischen Erscheinungen) repräsentieren ihr musikalisches Leben. Sowohl die Niederschrift von Büchern wie auch die kompositorische Tätigkeit sind für eine Frau des Mittelalters sehr außergewöhnlich. Dies macht deutlich, welch hohe Popularität Hildegard zu ihrer Zeit genossen haben muss.
Hildegard und die Medizin
Ihre medizinischen Schriften bilden den dritten und letzten Bereich. Sie sind im Buch „Liber Subtilitatum Diversarum Naturarum Creaturarum“ (Vom inneren Wesen der verschiedenen Naturen der Lebewesen) zusammengefasst. Der heilkundliche Teil befasst sich mit Krankheiten und Hinweisen zur Lebensführung. Der naturkundliche Teil enthält in neun Büchern (der Begriff Buch entspricht unserem heutigen Kapitel) eine Systematik der Pflanzen- und Tierwelt hinsichtlich ihrer medizinischen Bedeutung.
Die neun Bücher der „Physica“, Hildgards Systematik der Heilkräfte:
1. De Plantis. Über die Pflanzen
2. De Elementis. Über die Elemente
3. De Arboribus. Über die Bäume
4. De Lapidibus. Über die Steine
5. De Piscibus. Über die Fische
6. De Avibus. Über die Vögel
7. De Animalibus. Über die Tiere
8. De Reptilibus. Über die Reptilien
9. De Metallis. Über die Metalle
Mit Ausnahme des zweiten Buches beginnt jeder Teil mit der Praefatio, einer Vorrede, in der Hildegard von Bingen Glaubens- und Naturlehre miteinander verknüpft.
„Deus, qui hominem de limo terrae absque dolore fecisti, nunc terram istam quae nunquam transgressa est, juxta me pono ut etiam terra mea pacem illiam sentiat, sicut eam creasti“.
Übersetzung: „Gott, der du den Menschen aus dem Erdboden ohne Schmerz geschaffen hast, nun lege ich diese Erde neben mich, die niemals sündigte, damit auch mein Leib den Frieden finde, wie Du ihn geschaffen hast“.
Das Werk der Hildegard von Bingen gibt uns einen wichtigen Einblick in die Geschichte der Medizin. Dabei ist ersichtlich, dass die Ärztin und Äbtissin in weit stärkerem Maße Wissenschaft und Mythologie vermengt, als ihre Vorgänger Hippokrates und Galen. Aus heutiger Perspektive sind Hildegards Rezepte für die Heilung von Krankheiten zumeist unwirksam und in einigen Fällen durchaus schädlich.
1. Über die Pflanzen (De Plantis)
In der Vorrede (Praefatio) ihrer ausführlichen Pflanzenkunde trennt sie die Pflanzen zur grundlegenden Ernährung von Kräutern, die den Speisen nur zugesetzt werden. Vom Genuss der wild wachsenden Pflanzen, also solchen, die sich ohne Zutun des Menschen verbreiten, rät sie ab, weil „die gemessene Zeit“ zur Ernährung mit diesen fehle. Vielleicht ist dies auch als Vorsichtsmaßnahme gedacht, um Vergiftungen zu vermeiden. Denn einige jener wilden Pflanzen gleichen „als Medizin die schädlichen und kranken Säfte in den Menschen aus.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Plantis)
Die Alraune (De Mandragora)
Diese Worte legt Hildegard all denjenigen ans Herz, die vom Trübsal befallen sind. Wirksam werden sie in Verbindung mit der Kraft der Alraune, einer Pflanzen, deren Wurzeln in ihrer Form rein ein wenig an die Gestalt des Menschen erinnern:
„Der Alraun ist warm, ein wenig wässrig und stammt aus der Erde, aus der auch Adam geschaffen wurde. Die Wurzel ist dem Menschen ähnlich, daher ist diese Pflanze den Einflüsterungen und Nachstellungen des Teufels mehr als alle anderen Pflanzen ausgesetzt. Wenn sie ausgegraben wird, soll sie sogleich einen Tag und eine Nacht in Quellwasser gelegt werden, damit wird alles Schlechte und Böse aus ihr gezogen, und sie verliert ihre magische Kraft. Geschieht dieses nicht, so bleibt die Erde an ihr haften, dann ist sie zu vielerlei Teufelskünsten zu gebrauchen. Wenn ein Mann infolge Zauberei oder aufgeregter Natur nicht enthaltsam ist, so nehme er die weibliche Gestalt der gereinigten Pflanze, binde sie zwischen Brust und Nabel, und trage sie drei Tage und Nächte. Dann spalte er sie und binde die Teile auf beide Lenden, drei Tage und Nächte. Er mache auch die linke Hand der Figur zu Pulver und nehme das Pulver mit etwas Kampfer. Nun wird er beruhigt. Ist es bei einer Frau der Fall, so nehme sie eine männliche Figur und verfahre ebenso. Gegen Leiden einzelner Körperteile verspeise man die selben Gliedmaßen der Figur. Gegen Leiden am Haupt das Haupt, gegen Leiden am Hals den Hals, so fahre man fort.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Plantis)
2. Über die Elemente
Hildegard Elementelehre unterscheidet sich von der klassischen Lehre der Antike, da sie sich auf Luft, Wasser und Erde beschränkt. Den Schwerpunkt legt sie auf des Wasser, das Feuer findet aber als Element keine Erwähnung. Ausführlich beschreibt sie die Gewässer ihres Wirkungskreises: Rhein, Main, Donau, Mosel, Glan und den Fluss Nahe, an deren Mündung auch das Kloster Rupertsberg liegt. Rätselhaft ist ihre Bemerkung über die Fließrichtung des Wassers. Obwohl die Äbtissin viele Reisen unternimmt und sich als aufmerksame Beobachterin erweist, bezeichnet sie das Meer als Quelle der Flüsse: „Mare flumina flumina emittit“. Womöglich spielt sie dabei auf die Verdunstung des Meerwassers an, das als Regen über den Bergen wiederkehrt. Dem widerspricht allerdings ihre präzise Darstellung über den Ursprung des Rheins, der „das Meer ungestüm verlässt“.
Über die Luft (De Aere)
Hildegards Überlegungen zur Luft beschreiben nicht nur den Treibhauseffekt, sie führen auch in Spekulationen über die Himmelskörper und die Existenz einer (tatsächlich sehr geringen) Mondatmosphäre:
„Die Luft läßt die Keime in der feuchten Erde warm werden, damit alles grünt. Sie bringt die Blumen hervor und läßt durch Wärme alles reifen. Die Luft in der Nähe des Mondes und der Sonne benetzt diese, gleich wie die Luft um die Erde alle Wesen gemäß ihrer Natur am Leben erhält und bewegt.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Elementis)
Über die Erde (De Terra)
Hildegard unterscheidet vier Arten von Erde: Weiße, schwarze, fuchsrote und grünliche: „Die weiße Erde ist sandig und trocken, …und trägt Wein- und Obstbäume, aber wenig Getreide. Die schwarze Erde trägt wegen ihrer maßvollen Feuchtigkeit zwar nicht alle Früchte, aber die sie trägt sind sehr ergiebig. Dagegen trägt die rote Erde wegen ihrer Ausgewogenheit an Temperatur und Feuchtigkeit zwar sämtliche Früchte, aber wegen ihrer Fülle können sie nicht bis zur Vollendung reifen.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Elementis)
Über den Rhein (De Rheno)
Eigenartigerweise hat die Äbtissin über den großen Strom ihrer Heimat nur wenig Gutes zu berichten. Noch viel rätselhafter ist ihre Darstellung seines Ursprungs:
„Weil der Rhein das Meer ungestüm verläßt, ist er scharf wie eine Lauge. Wenn man ungekochtes Rheinwasser trinkt, zehrt dies die schädlichen und giftigen Säfte auf. Findet es nichts zum reinigen vor, so zehrt es am gesunden Menschen. Speise, die in Rheinwasser gekocht wird, entzieht es die schädlichen Stoffe. und macht sie so gesünder. Wenn man es sich aber beim Baden oder Waschen über das Gesicht gießt, bläht es das Fleisch auf. Es läßt das Fleisch anschwellen, schwärzt und entstellt es. Auch Fleisch, das in ihm gekocht wird, wird geschwärzt und aufgebläht. Das Wasser des Rheins ist rauh und durchdringt schnell die Haut des Menschen. Weil es so rauh ist, faulen auch die Fische rasch, wenn man sie liegen lässt. Frisch gefangen sind sie jedoch sehr bekömmlich.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Elementis)
3. Über die Bäume
In ihrer Vorrede (Praefatio) unterscheidet Hildegard von Bingen Wald- und Obstbäume. Auch verschiedene Sträucher und den Weinstock rechnet sie zu den Bäumen zu. Das gemeinsame Merkmal der Kategorie ist sie das Tragen von Früchten (Obst). Zum Verzehr von rohem Obst rät Hildegard allerdings eher selten. Fast schon eine Ausnahme bildet der Apfel, den „der gesunde Mensch ohne besondere Zubereitung“ essen darf.
Über die Rebe
Hildegard von Bingen weiß um die Bedeutung von Sonne und Bodenbeschaffenheit für die Qualität der Reben. Den Wein emphiehlt sie in Verbinung mit der Asche des Rebstocks zur Zahnbehandlung, Zahnpflege und Zahnkosmetik:
„Die Rebe enthält feurige Hitze und Feuchtigkeit. Ihre Hitze ist so groß, daß sie dem Saft der Rebe einen ganz eigenartigen Wein gibt, wie ihn andere Bäume und Gräser nicht haben. Vor der Sintflut war die Erde gebrechlich und es wuchs kein Wein. Weil sie durch die Flut gestärkt wurde, wächst Wein. Die heutige Erde verhält sich zur Erde vor der Flut wie Grießstein zur jetzigen Erde. Wenn das Fleisch um die Zähne herum fault, und wenn die Zähne krank sind, möge man die warme Asche der Weinrebe in Wein legen, und dann möge man mit jenem Wein die Zähne und das Fleisch um die Zähne waschen. Dies möge man oft tun, und jedes Fleisch wird geheilt und die Zähne werden hart und fest. Wenn die Zähne gesund sind, so wird das Waschen von Vorteil und sie werden schön.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Arboribus)
Über den Kastanienbaum (De Kestenbaum)
In ihrer Darstellung des Kastanienbaums verweist Hildegard von Bingen auf den Zusammenhang zwischen der Krankheit des Körpers und der Seele:
„Der Kastanienbaum ist sehr warm; dabei erhält er eine große Kraft, die der Wärme beigemengt ist. Er versinnbildlicht die Gelassenheit. Sein Saft und seine Frucht sind nützlich gegen jegliche Schwäche des Menschen. Wer die Gicht hat und zornig ist, und sich mehrmals aus ihren Bättern, der Rinde und ihren Früchten Dampfbäder macht, verliert die Gicht und gelangt wieder zu einem milden Sinn. “ (Hildegard von Bingen: Physica. De Arboribus)
Über die Tanne (De Abiete)
Für Hildegard von Bingen ist die Tanne ein Sinnbild der Stärke. Zudem vertreibt sie unerwünschte Geister. Bei einer Rezeptur in Verbindung mit Salbei hinzugefügt gewinnt man aus der Tanne ein Heilmittel für verschiedene Organe:
„Geister hassen Tannenholz und meiden die Orte, an denen sich dieses befindet. Zauberei und Magie wirken dort weniger als anderswo. Wenn jemand im Kopf leidet, und infolge davon auch Herzbeschwerden bekommt, muß er sich zuerst über dem Herzen und danach, nach dem abrasieren der Haare, auch auf dem Kopfe zwei bis drei Tage lang mit einer Salbe einreiben, die auf diese Weise hergestellt wird: Man kocht in Wasser Rinde und Blätter und ganz kleine Stückchen vom Holz des Baumes, und halb soviel Salbei, bis es dick wird. Blätter, Rinde und Holz müssen im März oder im Mai, wenn der Baum frisch und grün ist, so abgenommen werden, daß vom Saft nichts verloren geht. Die dick gekochte Masse coliert man dann mit im Mai gemachter Butter durch und gewinnt eine Salbe, die auch gegen Magen- und Milzbeschwerden wirkt, wenn man sie wegen der Krankheit des Herzens zuerst über dem Herzen, dann erst über den kranken Organen aufträgt.
4. Über die Steine
Hildegard von Bingen ordnet jedem der von ihr katalogisierten 26 Edelsteine und Halbedelsteine eine bestimmte Tageszeit zu, in der er „aus Wasser und Feuer“ entstand. Aus der Mischung dieser beiden Elemente leitet sie für jeden Stein einen bestimmten Charakter zu. In ihrer Vorrede nennt sich auch den Fundort der Edelsteine. Man entdeckt sie vor allem nach Überschwemmungen an den Bächen, die aus dem Gebirge strömen.
Über den Samargd (De Smaragdo)
Hildegard von Bingen nimmt an, dass der Smaragd am Morgen bei Sonnenaufgang wächst. Die Frische des beginnenden Tages macht ihn zum starken Mitel gegen die Krankheiten des Menschen:
„Wer Schmerzen am Herzen, im Magen oder an der Seite erdulden muss, der trage einen Smaragd bei sich, damit sich sein Körper an ihm wärme. Es wird ihm wohler werden. Wenn ihn so viele Krankheiten befallen, dass er sich kaum erwehren kann, dann nehme er den Smaragd sogleich in den Mund, damit er vom Speichel nass wird. Den so erwärmten Speichel ziehe er oft ein und spucke ihn wieder aus, dann lassen die Anfälle dieser Krankheiten ohne Zweifel nach. Wer von der Fallsucht gepeinigt zu Boden stürzt, dem lege man einen Smaragd in den Mund, und sein Geist wird neu belebt sein.“ Nach der Linderung durch den Smaragd nennt Hildegard von Bingen ein Gebet, das der Geheilte sprechen soll, während er seinen Blick auf den Smaragden richtet: „Wie der Geist des Herrn den Erdkreis erfüllt, so fülle er das Haus meines Körpers mit seiner Gnade, so dass sie ihm niemals genommen werden könne.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Lapidibus)
Über den Saphir (De Saphiro)
Hildegard von Bingen nimmt an, dass der Saphir zur Mittagszeit wächst, wenn die Sonne am stärksten brennt. Der „feurige, ungestüme Stein“ dient zur Linderung von Augenkrankheiten:
„Wem die Augen vor Schmerz rot werden, oder wem die Augen verwundet oder gar blind sind, der nehme nüchtern einen Saphir in seinen Mund, damit er feucht vom Speichel wird. Er umgebe seine Augen mit demselben Speich in der Art, daß auch das Innere des Auges davon benetzt wird. Die Augen werden nun hell und klar werden.“
Eine zweite Funktion des Saphirs betrifft den eher zwischenmenschlichen Bereich, es geht um das Verhältnis zwischen einem ungestümen Mann und einer bedrängten Frau:
„Reizt der Teufel den Mann in Liebe zu einer Frau auf, sodass er ohne Anrufung von Geistern liebestoll sich gebärdet, und dies der Frau lästig fällt, so soll sie dreimla Wein über einen Saphir gießen und sprechen: Ich gieße diesen Wein in glühenden Kräften übner dich aus, so wei Gott den Glanz, o ungetreuer Engel, von dir nahm, damit du Liebe und Wolllust dieses Mannes von mir nimmst“. (Hildegard von Bingen: Physica. De Lapidibus)
Über den Magnete (De Magnete)
Der Magnet wird in unserer heutigen Zeit mit vielerlei schützenden und heilenden Wirkungen in Verbindung gebracht. Hildegard von Bingen nennt ihm als Mittel gegen Lähmung, Schlaganfall und Gelbsucht: „Der Magnet entsteht aus dem Geifer des giftigen Wurms. Er erstickt Bosheit, Lüge und Zorn. Er macht das Fasten leicht, wenn man ihn im Mund trägt. Er hilft bei Lähmungen, nach Apoplexie (Schlafanfall) und bei Gelbsucht.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Lapidibus)
5. Über die Fische
In der Vorrede (Praefatio) zu den Fischen beschreibt Hildegard von Bingen ihre Lebensgewohnheiten in den unterschiedlichen Wassertiefen. Sie unterscheidet Tiere die sich an der Oberfläche, in der Mitte des Wassers und in größerer Tiefe aufhalten. Als Nahrung der Fische nennt sie Kräuter, die auch dem Menschen zuträglich wären, wenn er sie finden und sich nutzbar machen könnte. Der erste Mensch Adam kannte diese Kräuter, verschmäht sie aber als er andere Nahrung gefunden hatte. Den Laich der Fische hält Hildegard für ungenießbar, ja giftig. Den Fischern empfiehlt sie daher, die Netze nach dem Fang sorgsam zu reinigen.
Über den Walfisch (De Cete)
Über den Walfisch weiß Hildegard zu berichten, dass ohne ihn das Meer aufgrund der Vielzahl der „anderen Fische“ völlig undurchdringlich wäre: „Si pisces comedendo et devorando non minuerentur.“ Das Tier beschreibt sie als gefräßig, sein Fleisch als für den Menschen heilsam:
„Nachdem er viel gefressen hat, wird fett und kann sich kaum von seinem Ort weg bewegen. Dann erhebt er sich und und spuckt mit dem Schaum etwas aus, dass er gefressen hat. Erst wenn er merkt, dass er sich bewegen kann, schwimmt er zu einem anderen Ort. Dadurch verliert er etwas Fett und Schwere. Er freut sich, dass er sich bewegen kann, und schwimmt froh nach hier und dort. Was ihm begegnet, frißt er in seinem Übermut. Zu dieser Zeit fangen ihn die Menschen mit List. Sein Fleisch ist sehr kräftig, wer es ißt, bekämpft alle üblen Kräfte. So wie Gott jedem Lebewesen eine Gestalt gegeben hat, um seine Macht zu zeigen, hat er es auch bei diesem Fisch getan. Deshalb esrpürt der Wal auch die Unwürde des Teufels und bläst seinen Atem gegen ihn. Sein Fleisch ist nahrhaft und den Menschen, gesund oder krank, zuträglich. Geister entfliehen vor ihm, denn wenn er seine Haut zusammenzieht, dann bietet er einen furchterregenden Anblick, und er bläst gegen das Trugbild seinen schrecklichen Atem. Ein wahnsinniger Mensch soll vom Fleisch des Walfisches viel essen, mit etwas Brot zusammen. Davon gewinnt er an Verstand zurück.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Piscibus)
Über den Hering (De Allec)
Den frischen Hering empfiehlt Hildegard nicht zum Genuss, da er „im Körper Eiter verursacht“. Um ihn ohne Reue zu genießen, soll man ihn deshalb abkochen, und solange er noch warm ist mit Weinessig übergießen und darin beizen. Generell ist er für Hildegard mehr Heil- als Nahrungsmittel:
„Wer auf dem Haupt ein Grind hat, oder am Leib Spuren von Krätze oder Aussatz, säubere einen Hering gesalzen im Wasser und reinige sich selbst dann im Abstand einer Stunde zweimal das Haupt oder die befallenen Stellen des Leibes mit diesem Wasser. Am nächsten Tag soll er die gleichen Stellen mit einer Lauge aus Buchenasche reinigen. Am dritten Tag soll er sich an den Stellen mit Bockstalg einreiben. Wenn er dies richtig macht, werden Grind, Krätze oder Aussatz gemildert.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Piscibus)
Über den Aal (De Anguilla)
Den Aal beschreibt Hildgard nicht als Tier, das von Gott so geschaffen wurde. Es ist Ergebnis einer Kreuzung zwischen einem Fisch und einem anderen Tier:
„Und wie auch manchmal der Mensch seine Natur aufgibt und sich mit dem Vieh mischt, so führt auch die Vermischung unter den Tieren zu einem neuen Geschlecht.“ Das Aalfleisch charakterisiert Hildegard als für den Menschen schlecht verträglich: „Er liebt die Nacht und hat die Natur von Würmern, die sich gerne in Höhlen aufhalten, aber dennoch wenig unrein sind. Aber er hat ebenso die Natur der Fische und frisst wenig Unreines. Trotzdem ist sein Fleisch etwas unrein, es taugt deinem gesunden Menschen nicht zur Speise, ebenso wie das Fleisch des Schweines. Seine Galle ist Fett. Wer sich damit die Augen einreibt, kann so für kurze Zeit besser sehen, danach werden sie aber umso mehr geschwächt.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Piscibus)
6. Über die Vögel
Die Vögel versinnbildlichen bei Hildegard von Bingen Kraft und Weisheit. Dem Menschen verhelfen sie zu bedachter Rede. Als Tiere der Lüfte sind sie im Guten und Schlechten Vorboten kommender Ereignisse. Ihr Gespür entnehmen sie dabei den Luftveränderungen.
Über die Eule (De Ulula)
Die nachtaktive Eule, das Wappentier Athens, war in der Antike ausschließlich mit der Weisheit verbunden. In den Überlieferungen Mitteleuropas wird sie auch zum unheilbringenden Wesen. Auch Hildegard von Bingen stützt sich auf altes Volksgut:
„Die Eule ist warm und hat die Angewohnheiten des Diebes, der den Tag kennt, ihn aber flieht und die Nacht liebt. Die anderen Vögel meidet sie weil sie ihr Wesen nicht liebt. Sie spürt den Tod des Menschen im Voraus. Sie weiß, wo Trauer bevorsteht, und eilt wie ein Leichenvogel sogleich dorthin, flieht aber, noch bevor die Trauer ausbricht. Sie ernährt sich von Dingen, die der menschlichen Natur entgegen sind. Eine Salbe aus dem Schmalz der Eule, gemischt mit einem Dekokt von Rinfarn und Baumöl, hilft paralytischen und gichtigen Menschen. (Hildegard von Bingen: Physica. De avibus)
Über die Nachtigall (De Nachtgalla)
Die Nachtigall ist nicht wie die Eule das Symbol eines nahenden Unglücks, sondern der fröhliche Seite der Nacht: „Die Nachtigall ist warm, trocken und rein. Sie hat ihre Natur von der Nachtluft. Deshalb singt sie und freut sich in der Nacht mehr als am Tage. Wer verdunkelte Augen hat, soll vor Anbruch des Tages eine Nachtigall fangen. ihre Galle entleeren, eine Tautropfen hinzufügen und damit vor dem Schlaf seine Wimpern und Lider benetzen. Das wird die Verdunkelung auf wunderbare Weise von den Augen nehmen. (Hildegard von Bingen: Physica. De avibus)
Über den Schwan (De Cygno)
Leber, Lunge und Fett des Schwanes sollen gegen verschiedene Leiden nützlich sein: „Der Schwan ist kalt und Feucht, er hat etwas vom Wesen der Gans und der Ente. Er schwimmt gerne im Wasser, liebt die Erde und das Wasser mehr als die Lüfte. Sein Fleisch ist Gesunden wie Kranken ohne Nutzen. Gegen Lungenleiden soll man seine Leber gekocht essen, gegen Leiden der Milz seine gekochte Lunge. Das Fett des Schwanes ist in einer Salbe mit Beifuß und Eichenrinde gegen Ausschläge zu verwenden. Nach dem Einschmieren wird die Haut Pusteln zeigen, dann jedoch rasch heilen.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De avibus)
7. Über die Tiere
Das Kapitel über die Tiere bildet einen Höhepunkt in der Naturkunde der Hildegard von Bingen. In ihrer Weltanschauung, die sie in der Vorrede (Praefatio) darlegt, bilden die Tiere die Gedanken des Menschen ab. Besonders nahe stehen dem Menschen der Löwe und der Bär. Auch das Einhorn ist in Hildegards Katalog aufgenommen. Die Mystikerin schöpfte ihr Wissen aus vielen Quellen, und die Existenz des Fabelwesens zog sie dabei nicht in Zweifel.
Über den Löwen (De Leone)
Im einem faszinierendem sprachlichen Stil, der uns an modernene Tierdokumentationen erinnert, schildert Hildegard von Bingen das Temperament, das Paarungsverhalten und die Sorge um die Jungen bei den Löwen:
„Der Löwe ist sehr heiß. Er weiß über den Menschen, und wenn er ihn in seiner Wut verletzt, so bereut er es nach der Tat. Seine Kraft und seine tierische Natur vergessend, paart er sich ehrbar mit der Löwin. Wenn die Löwin nicht das Leben der Jungen in sich spürt, ist sie voll Trauer und dem Löwen zum Feind, da sie nicht weiß, ob sie empfangen hat. Wenn sie die Jungen zur Welt gebracht hat, und sie für tot hält, verlässt sie dieselben. Der Löwe aber sieht dann die Löwin, weiß dass sie geboren hat, eilt zu ihnen und richtet die Jungen auf. Er sammelt seine Kräfte, die er bei der Paarung eingebüßt hat und brüllt so laut, dass die Jungen davon erweckt werden. Und er brüllt noch viel lauter, damit die Löwin glücklich herbeieilt, den Löwen vertreibt, die Jungen pflegt und aufrichtet. Sie erlaubt es dem Löwen nicht, sich zu nähern, bis sie erwachsen sind.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Animalibus)
Über den Bären (De Urso)
Hildegard beschreibt den Bären, noch mehr als den Löwen, als mit dem Mensche sehr verwandt. Das Kapitel über den Bären enthält zwei Schlüsselstellen ihrer Naturbetrachtung und Naturphilosophie. Erstens: Die Seele schlüpft in den Menschen, nachdem seine Organe ferig gestellt sind. Zweitens: Der Mensch war den Tieren sehr ähnlich, bevor er den Apfel im Garten des Paradieses vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, und sich dadurch versündigte.
„Der Bär hat Wärme fast wie der Mensch, manchmal ist er aber auch kalt. Wenn er warm ist, so hat er eine laute Stimme, und er ist sanftmütig. Ist er aber kalt, so hat er eine leise Stimme und ist voller Zorn. Ist er lüstern, so ist er zahm und nicht zornig. Die aber der Lust nicht nachkommen können, sind zorniger Natur. Als Gott den Menschen schuf, stellte er Verbindungen, Organe, den Verlauf der Adern und alle Wege her, die die Seele zu durchwandern hat.
Gott schuf die Vögel, Fische und Tiere vorher, doch sie taten nichts, eher er wirkte, und warteten ab, was der Mensch zuerst beginnen würde. Als aber der Mensch den Apfel gegessen hatte, und vor Angst schwitzte, nahm sein Blut die Eigenschaft der menschlichen Natur an. Und auch die übrigen Tiere erhielten ihre Natur.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Animalibus)
Über das Einhorn (De Unicorni)
Echte Tiere und Fabelwesen mischen sich in der Naturlehre der Hildegard von Bingen. Der Drache findet seinen Platz unter den Reptilien, und das Einhorn unter den Tieren:
„Das Einhorn hat mehr Wärme als Kälte. Es ernährt sich von Pflanzen. Menschen und andere Tiere meidet es. Den Mann fürchtet das Einhorn und flieht ihn. So wie die Schlange beim ersten Sündenfall sich vom Mann abwandte, und das Weib anblickte, so flieht auch dieses Tier den Mann, es folgt aber den Frauen. Daher kann es so schwer eingefangen werden.“ Trotz des scheuen Wesens eines Einhorns weiß Hildegard aber Rezepte: „Die pulverisierte Leber ergibt mit Eigelb versehen eine Salbe, die bei regelmäßigem Gebrauch jede Art von Aussatz heilt, es sei denn, der Kranke ist für den Tod bestimmt, und Gott will nicht, dass er geheilt wird. Ein Gürtel aus der Haut des Einhorns ist Schutz gegen Pest und Fieber. Schuhe aus dem Leder des Einhorns verleihen gesunde Füße, Unterschenkel und Gelenke.
(Hildegard von Bingen: Physica. De Animalibus)
8. Über die Reptilien
Hildegard von Bingen charakterisiert in ihrer Vorrede (Praefatio) die Reptilien im Einklang mit der Schöpfungsgeschichte: Sie sie stehen auf der untersten Stufe der Lebenwesen. In ihnen laueren allerlei magische Kräfte, und sind sind für den Menschen nicht genießbar.
Über den Drachen (De Draconis)
In Hildegards Tiersystematik tummeln sich munter Fabelwesen wie das Einhorn oder der Drache. Die Äbtissin schreibt in Übereinstimmung mit der Vorstellungswelt des hohen Mittelalters. Für die Gelehrten ihrer Zeit, mit denen sie in regem Austausch steht, bilden die mythische und die christliche Weltanschauung nicht zwangsläufig einen Widerspruch. Der Drache symbolisiert dabei die Figur des Teufels:
»Der Drache hat eine trockene, ungewöhnliche Hitze und ein unbezähmbares Feuer in sich, doch sein Fleisch ist nicht feuriger Natur. Sein Odem aber ist so kräftig und scharf, dass er, sobald er ausgestoßen wird, entflammt wie ein Feuer, das aus einem Stein geschlagen wird. Dem Menschen ist er übel gesinnt. Weil er das Wesen und die Tücken des Teufels hat, bewegt er Geister in der Luft, wenn er ausatmet.« Hildegard empfiehlt das feurige Tier nicht zum Verzehr, sein kräftiges Blut aber zur Bekämpfung von Steinen: »Wenn ein Mensch einen Stein in sich träft, soll er Drachenblut nehmen und es an einem feuchten Platz bringen, danach in reinem, klaren Wasser eine knappe Stunde lassen, damit das Wasser von seiner Wärme annimmt. Das Blut soll er dann wieder abschöpfen und das Wasser nüchtern trinken. Gleich darauf soll er ein wenig essen. So soll er es über neun Tage tun, aber stets nur mäßig von dem Wasser trinken. Durch die Kraft des Drachenblutes sird der Stein in ihm zerbrechen, und der Mensch wird vom Stein befreit. Unverdünntes Drachenblut soll man niemals trinken, man würde daran sterben.« (Hildegard von Bingen: Physica. De Reptilibus)
Über den Skorpion (De Scorpione)
Die Giftigkeit des Skorpions betrifft bei Hildegard seinen ganzen Körper. Heilmittel lassen sich aus ihm nicht herstellen. Der Skorpion ist so giftig, das nicht erst das Kosten, sondern schon die Berührung eines mit ihm hergestellten Trankes tödlich wirkt.
Über den Regenwurm (De Ulwurm)
Das Kapitel über den Regenwurm zeigt Hildegard zu gleichen Teilen als Naturbeobachterin wie Mystikerin. Die Erde beschreibt sie als Lebewesen, das von Adern durchzogen ist:
»Der Regenwurm …hat wegen seiner reinen Natur keine Knochen. Die Erde hat Feuchtigkeit in sich, durch die sie, wie Adern, zusammengehalten wird, und nicht auseinanderströmt. Wenn Regen bevorsteht, spürt die Feuchtigkeit der Erde, dass ihre Adern gefüllt werden. Der Regenwurm spürt das und kriecht wegen der Fülle der Adern hervor.« Die Zeit nach einem Regen empfiehlt Hildegard dazu, Würmer einzufangen und mit Weizenmehl zu einem Teig zu verarbeiten. Die weiteren Zutaten des Teigs sind Eichenholz und in gleicher Menge Wein und Essig. Dieser Teig soll bei Geschwüren eingesetzt werden: »Gegen nicht aufgebrochene Geschwüre hilft der Teig, wenn er drei Tage aufgelegt wird. Wenn sie aber schon aufgebrochen sind, muss man den Teig erst in eine Lauge tunken und dann auflegen.« (Hildegard von Bingen: Physica. De Reptilibus)
9. Über die Metalle
Das Werk der Hildegard von Bingen gibt uns einen wichtigen Einblick in die Geschichte der Medizin. Dabei ist ersichtlich, dass die Ärztin und Äbtissin in weit stärkerem Maße Wissenschaft und Mythologie vermengt, als ihre Vorgänger Hippokrates und Galen. Aus heutiger Perspektive sind Hildegards Rezepte für die Heilung von Krankheiten zumeist unwirksam und in einigen Fällen durchaus schädlich. Die giftige Wirkung der Metalle war Hildegard von Bingen noch nicht bekannt. Die Entstehung der Metalle erklärt sie in ihrer Vorrede (Praefatio) durch die Durchmischung von Feuer und Wasser.
Über das Gold (De Auro)
Das edle Metall bringt Hildegard von Bingen mit der Kraft der Sonne in Verbindung. Als Heilmittel empfiehlt sie es gegen die Gicht:
„Ein Mensch der von der Gicht befallen ist, koche Gold so lange, bis es völlig rein ist. Dann zermahle er es zu Pulver, nehme eine Handvoll Mehl, knete dies mit Wasser und gebe zum Teig ein wenig von dem Goldpulver, im Gewicht eines Obulus. Wenn er am Morgen nüchtern ißt, um am Tag darauf ebenfalls nüchtern ißt, vertreibt es die Gicht für ein ganzes Jahr. Das Gold liegt zwei Monate in seinem Magen. aber es macht den Magen nicht bitter. Es erzeugt auch keinen Eiter, sondern er reinigt ihn ohne Gefahr, wenn er kalt und schleimig ist. Wenn ein Gesunder dies tut, erhält er damit seine Gesundheit, ein Kranker gewinnt sie. (Hildegard von Bingen: Physica. De Metallis)
Über das Kupfer (De Cupro)
Das Kupfer ist für Hildegard von Bingen als Medizin und Mensch und Tier gleichermaßen geeignet. Freilich soll es für den Menschen mit Wein, für das Vieh mit Wasser aufgegossen werden. Hildegard erreicht bei ihren Missionsreisen auch viele Menschen in Weinanbaugebieten. Die örtlichen Winzer werden es mit Freude vernommen haben, wenn der Wein ihrer Anbaugebiete von der populären Äbtissin ob seiner Heilkraft gerühmt wurde:
„Das Kupfer ist kalt, erwärmt sich jedoch schnell und ist gleichsam der Asche des Goldes. Wer ein Fieber hat, das im Magen entsteht, der soll reines Kupfer in fränkischen Wein legen und den Wein stark kochen. Sobald er einzudampfen beginnt, soll er ihn vom Feuer nehmen und nun neun Tage lang nüchtern und mäßig trinken.“ Gegen Krankheiten der Pferde, Esel, Rinder, Ziegen, Schafe und Schweine empfiehlt Hildegard einen Wasseraufguss, mit dem das Futter der Tiere besprengt wird. (Hildegard von Bingen: Physica. De Metallis)
Über das Silber (De Argento)
Auch das Silber bedarf des guten Weines, um seine heilende Wirkung zu entfalten: „Ein Mensch, der zu viele Säfte in sich hat und sie oft auswirft, der soll drei- bis viermal ganz reines Silber erhitzt in guten Wein legen, damit der Wein davon warm. Am Abend soll er ihn nüchtern trinken. So werden sich die überflüssigen Säfte verringern.“ (Hildegard von Bingen: Physica. De Metallis)