Der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa aufgekommene Glaube an eine scheinbar unbegrenzte Planbarkeit der Zukunft und die Möglichkeit zur Lösung der Probleme der Menschheit mittels einer besseren Bildung motivierte unterschiedlichste Kräfte, sich über pädagogische Veränderungen Gedanken zu machen. Die Vielzahl der Strömungen, von denen manche bis heute wirksam sind und sogar eine kleine Renaissance erleben, werden unter dem Begriff Reformpädagogik zusammengefasst. Das Einigende der Pädagoginnen und Pädagogen dieser Epoche ist die Charakterisierung der traditionellen Schule als eine Zwangsanstalt, die zugunsten der Disziplin und der Vermittlung des Lernstoffes die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler missachtet. Durch die Fixierung auf das Memorieren von Daten und Fakten seien die jungen Menschen zur Passivität verdammt. Der Lehrer erscheint den Reformpädagogen als ein menschlich verarmter Pauker, der mit der Rute vom Katheder aus sein allzu strenges Regiment führt.
Mit dem Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ trifft die schwedische Pädagogin Ellen Key den Nerv der Zeit. Maria Montessori, Rudolf Steiner, Peter Petersen und andere schaffen neue pädagogische Ansätzen und experimentierten in der schulischen Praxis. Petersen benennt seiner Theorie in Anlehnung an seine Wirkungsstätte als „Jena-Plan“.
John Dewey und der Pragmatismus
Pragmatismus (griech: Pragma = Handlung) ist eine Strömung innerhalb der Reformpädagogik mit einem starken Gewicht auf praktische Tätigkeiten. Im Idealfall gewinnen die Schülerinnen und Schüler durch ihr Handeln die notwendigen Kenntnisse, um ein Problem theoretisch (!) richtig einschätzen zu können.
Die Pädagogik „vom Kinde aus“
Die Pädagogik „vom Kinde aus“ ist eines der Schlagwörter der reformpädagogischen Bewegung. Wer ist aber dieses Kind, um das sich alles drehen soll? Bei der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key ist das Kind endlich kein kleiner Erwachsener mehr, sondern Selbstzweck, die Kindheit ein eigenes, schützenswertes Lebensstadium. Die Kindheit wird zu dieser Zeit von der Reformpädagogik neu definiert. Montessori sieht in jedem einzelnen Neugeborenen gar einen Heilsbringer für die Menschheit. Etwas nüchterner verhält sich dies bei Peter Petersen, der weniger schwärmerisch veranlagt ist und es für wichtiger erachtet, aus Kindern vernünftige Erwachsene zu machen. Das einzelne Kind in den Mittelpunkt zu stellen und die Welt ganz nach ihm auszurichten erscheint ihm abwegig. Er ist der Überzeugung, dass der Mensch erst durch Erziehung zum eigentlichen Menschen wird, und hierbei alle Beteiligten mitarbeiten müssen.
Der Beginn der Jenaplan-Pädagogik
Peter Petersen ist seit 1920 Leiter der Hamburger Lichtwarkschule. In der Schülerschaft dieser renommierten Reformschule befinden sich Talente wie der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt und seine Gattin „Loki“. 1923 hat Petersen den Ruf an den Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft der Universität Jena angenommen. Als „Übungsparcour“ für die zukünftigen Lehrer ist dort die universitätseigene Schule angegegliedert.
Ab 1924 beginnt er diese Einrichtung nach seinen Ideen umzugestalten. Er führt altersgemischte Gruppen statt den üblichen Jahrgangsklassen ein und erklärt das gegenseitige Helfen und voneinander Lernen zum pädagogischen Prinzip: Die Jüngeren sollen von den Älteren lernen, die Unerfahrenen von den Erfahrenen. In den „Mitteilungen der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt der Thüringischen Landesuniversität Jena“ präsentiert Petersen seine pädagogischen Versuche einer interessierten Fachwelt und Öffentlichkeit. Seine zahlreiche Vorträge und Fortbildungsveranstaltungen für Lehrer locken Besucher aus ganz Deutschland und schließlich auch internationales Publikum an.
Peter Petersens internationales Engagement
Petersens pädagogische Theorie erscheint unter dem Titel „Der kleine Jena-Plan“, und wird in zehn Sprachen übersetzt. Er pflegt zahlreiche Kontakte zu renommierten Universitäten in Europa und gegen Ende der 20er Jahre auch in Amerika.
Im Sommer 1928 hält er sich auf einer Vortragsreise in den USA auf und lernt dabei auch den führenden amerikanischen Reformpädagogen John Dewey und dessen Theorie des Pragmatismus kennen. Dewey bestärkt Petersen in der Ansicht, dass die Schüler am besten durch einen handlungsorientierten Unterricht und durch die Herausforderung an einem konkreten Projekt lernen können. Petersen absolviert mehrere USA-Reisen, ein Aufenthalt in Chile wurde aber wegen Streitigkeiten mit dem dortigen Unterrichtsministerium vorzeitig beendet. Im Sommer 1937 besuchte er die Südafrikanische Union, den Vorläufer der heutigen Republik Südafrika.
Anthropologische Grundlagen
Jede pädagogische Theorie und Praxis basiert, offen dargelegt oder implizit, auf einem bestimmten Menschenbild, einer Anthropologie. Der Begriff Anthropologie enstammt den griechischen Wörtern Anthropos (Mensch) und Logos (Lehre). Das Menschenbild bestimmt letztendlich, welches Ziel eine pädagogische Theorie verfolgt.und welche Methoden hierfür tauglich scheinen. Ohne anthropologische Grundlegung bleibt die Pädagogik auf die Wissensvermittlung beschränkt. Leider ist diese Grundlegung nicht immer sofort ersichtlich. Denn wer sich darüber Vorstellungen macht, was aus dem Menschen werden soll, dem das Glück von Erziehung und Bildung widerfährt, er sollte sich über sein Menschenbild im Klaren zu sein. Es wäre unredlich, eine bestimmte Methode nur deshalb anzuwenden, weil sie in der Praxis leicht handzuhaben ist, denn die körperliche Züchtigung ist dies ebenfalls. Wichtiger ist es, ob Freiheit, Vernunft und Verantwortung gefördert werden sollen oder Unterordnung und Irrationalität. All dies sind Fragen der pädagogischen Anthropologie.
Das Menschenbild hinter der Jena-Plan-Pädagogik
Peter Petersen hat einen sehr ausgeprägten und positiv besetzten Gemeinschaftsbegriff. Seine Ideale begründen sich auf der Annahme einer eine „urgemeinschaftlichen Verbundenheit“ und Bruderschaft zwischen den Menschen. Den Individualismus und den Liberalismus lehnt er daher ab. Gleichzeitig steht er Staat und Kirche distanziert gegenüber und will eine Schule als autonome, wenn auch öffentliche Einrichtung.
Besonders wichtig ist ihm die Beteiligung der Eltern und die Einbeziehung aller Schüler, ohne Rücksicht auf ihre soziale Herkunft. Sein Bild vom einzelnen Menschen ändert Petersen mit steigendem Lebensalter. Vor 1933 beschreibt er, in der christlichen Weltsicht verwurzelt, den Menschen als von Natur aus gut. Dabei liegt ihm aber der schwärmerische Ansatz anderer Reformpädagogen weit fern, Petersen orientiert sich am „pädagogischen Realismus“, wie er ihn etwa bei Pestalozzi gefunden hat. Nach der Nazizeit, und wohl auch in Anbetracht seines eigenen persönlichen Versagens durch sein Arrangement mit den NS-Machthabern, relativiert er seinen ursprünglichen Optimismus.
Die Schule als Arbeits- und Lebensgemeinschaft
Peter Petersen versteht die Schule als Arbeits – und Lebensgemeinschaft, als Schulgemeinde. Im Mittelpunkt soll nicht die Wissensvermittlung stehen, sondern die bewusste Entwicklung von Fähigkeiten und die Gestaltung der eigenen Kultur. Besonderen Wert legt er auf die schulische Selbstverwaltung. Hierbei werden auch die Eltern in großem Maße einbezogen. An seiner Jenaer Universitätsschule ist es den Eltern sogar gestattet, die Schule ohne Voranmeldung zu besuchen und auch am Unterricht anwesend zu sein. Der stark religiös geprägte Petersen hält sich an das Lukaswort „Der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste und der Vornehmste wie ein Diener“ (Lukas 22, Vers 25-26). Durch ihre Mitarbeit sollen die Eltern den Schülern beiseite stehen und insbesondere bei den häufigen Schulfeiern zur Gemeinschaft beitragen.
Die Stammgruppe ersetzt die Klasse
Petersen ist der Überzeugung, dass man das Bildungsgefälle zwischen leistungsstarken und schwachen Schülern produktiv nützen kann, wenn die Kinder voneinander lernen. Dafür ist es zunächst notwendig, dass jüngere und ältere Schüler zusammenkommen. Statt der altershomogenen Klasse gibt es in der Jena-Plan-Pädagogik nun altersgemischte „Stammgruppen“. In jeder Gruppe sitzen drei verschiedene Jahrgänge und es gilt die Regel, dass die jüngeren Schüler zunächst die älteren Kameraden fragen, bevor sie sich an einen Lehrer wenden. Das Klassenzimmer soll dabei zur „Schulwohnstube“ umgestaltet werden.
Gespräch, Arbeit, Spiel und Feier
Besonders wichtig ist Petersen das Unterrichtsgespräch. Dabei werden nicht Vokabeln gepaukt, sondern Zusammenhänge vermittelt. In der heutigen pädagogischen Debatte würde man dies wohl einen „ganzheitlichen Ansatz“ nennen. In Anlehnung an die von Georg Kerschensteiner entwickelte Arbeitsschulpädagogik versucht Petersen, die Eigenverantwortlichkeit des Kindes durch praktische Tätigkeiten zu stärken. Der starre Stundenplan erscheint dafür nicht geeignet und wird von Petersen als „Fetzenstundenplan“ herabgewürdigt. An seine Stelle tritt ein von allen Beteiligten gemeinsam erstellter Wochenarbeitsplan. Das Spiel würdigt Petersen als wichtigen Teil der kindlichen Entwicklung und gibt ihm, anders als an der traditionellen „Paukschule“ üblich, einen festen Platz innerhalb der Schulgemeinschaft. Als besonders stärkend für das Gemeinschaftsgefühl hebt Petersen Schulfeiern hervor und installiert ein abgestuftes Konzept von gemeinsamen Zusammenkünften interner und öffentlicher Feierstunden. Kleinere Feiern werden innerhalb der Stammgruppen durchgeführt. Religiöse Feste, Eingangs- und Entlassfeiern inszeniert die gesamten Schule mit Beteiligung der Eltern.