Selbstbetrachtungen von Mark Aurel. Vorbemerkung: Der Text folgt, mit leichten Korrekturen und neuen Zwischenüberschriften, der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher (1768-1834)
Mark Aurel: Selbstbetrachtungen. Erstes Buch.
I. Von meinem Großvater weiß ich, was edle Sitten sind und was es heißt, frei sein von Zorn zu sein.
II. Der Ruf und das Andenken, in welchem mein Vater steht, verpflichten mich zu Bescheidenheit und männlichem Wesen.
III. Der Mutter Werk ist es, wenn ich gottesfürchtig und mitteilsam bin; wenn ich nicht nur schlechte Taten, sondern auch schlechte Gedanken fliehe; auch dass ich einfach lebe und nicht Reichtum zur Schau stelle.
IV. Mein Urgroßvater wollte nicht, dass ich die öffentliche Schule besuchte, sorgte aber dafür, dass ich zu Hause von tüchtigen Lehrern unterrichtet wurde, und ürberzeugte mich, dass man zu solchem Zweck nicht sparen dürfe.
V. Mein Erzieher wollte nicht, dass ich mich an den Wettfahrten beteiligte, weder in Grün noch in Blau, auch nicht, dass ich Ring- und Fechterkünste trieb. Er lehrte mich Mühen ertragen, wenig bedürfen, selbst Hand anlegen, mich wenig kümmern um anderer Leute Angelegenheiten und einen Widerwillen haben gegen jede Schmeichelei.
Marc Aurel über den Aberglauben
VI. Diognet bewahrte mich vor allen unnützen Beschäftigungen; vor dem Glauben an das, was Wundertäter und Gaukler von Zauberformeln, vom Geisterbannen usw. lehrten; davor, dass ich Wachteln hielt, und vor andern solchen Liebhabereien. Er lehrte mich ein freies Wort vertragen; gewöhnte mich an philosophische Studien, schickte mich zuerst zu Bacchius, dann zu Tandasis und Marcian, ließ mich schon als Knabe Dialoge verfassen und gab mir Geschmack an dem einfachen, mit einem Fell bedeckten Feldbett, wie es bei den Lehrern der griechischen Schule im Gebrauch ist.
VII. Dem Rusticus verdanke ich, dass es mir einfiel, in sittlicher Hinsicht für mich zu sorgen und an meiner Verbesserung zu arbeiten; dass ich frei blieb von dem Ehrgeiz der Sophisten; dass ich nicht Abhandlungen schrieb über abstrakte Dinge, noch Reden hielt zum Zweck der Erbauung, noch protzig mich als einen streng und wohlgesinnten jungen Mann darstellte, und dass ich von rhetorischen, poetischen und stilistischen Studien abstand; dass ich zu Hause nicht im Staatskleid wandelte oder sonst etwas derartiges tat, und dass die Briefe, die ich schrieb, einfach waren, so einfach und schmucklos, wie er selbst einen an meine Mutter von Sinuessa aus schrieb.
Marc Aurel und Epiktet
Ihm habe ich es auch zu danken, wenn ich mit denen, die mich gekränkt oder sonst sich gegen mich vergangen haben, leicht zu versöhnen bin, sobald sie nur selbst schnell bereit sind, entgegenzukommen. Auch lehrte er mich, was ich las, genau zu lesen und mich nicht mit einer oberflächlichen Kenntnis zu begnügen, auch nicht gleich zuzustimmen dem, was oberflächliche Beurteiler sagen. Endlich war er es auch, der mich mit den Schriften des Epiktet bekannt machte, die er mir aus freien Stücken mitteilte.
VIII. Apollonius zeigte mir, dass Geistesfreiheit eine Festigkeit sei, die dem Spiel des Zufalls nichts einräumt; dass man auf nichts ohne Ausnahme so achten müsse, wie auf die Gebote der Vernunft. Auch was Gleichmut sei bei heftigen Schmerzen, bei Verlust eines Kindes, in langen Krankheiten, habe ich von ihm lernen können. Er zeigte mir praktisch an einem lebendigen Beispiel, dass man der ungestümste und gelassenste Mensch zugleich sein kann, und dass man beim Studium philosophischer Werke die gute Laune nicht zu verlieren brauche. Er ließ mich einen Menschen sehen, der es offenbar für die geringste seiner guten Eigenschaften hielt, dass er Uebung und Gewandtheit besaß, die Grundgesetze der Wissenschaft zu lehren; und bewies mir, wie man von Freunden gezeigte Anerkennung aufnehmen müsse, ohne dadurch in Abhängigkeit von ihnen zu geraten, aber auch ohne gefühllos darüber hinzugehen.
IX. An Sextus konnte ich lernen, was Herzensgüte sei. Sein Haus bot das Muster eines väterlichen Regimentes und er gab mir den Begriff eines Lebens, das der Natur entspricht. Er besaß eine ungekünstelte Würde und war stets bemüht, die Wünsche seiner Freunde zu erraten. Duldsam gegen Unwissende hatte er doch keinen Blick für die, die an bloßen Vorurteilen kleben. Sonst wusste er sich mit allen gut zu stellen, so dass er denselben Menschen, die ihm wegen seines gütigen und milden Wesens nicht schmeicheln konnten, zu gleicher Zeit die größte Ehrfurcht einflößte. Seine Anleitung, die zum Leben notwendigen Grundsätze aufzufinden und näher zu gestalten, war eine durchaus verständliche. Niemals zeigte er eine Spur von Zorn oder einer andern Leidenschaft, sondern er war der leidenschaftsloseste und der hingebendste Mensch zugleich. Er suchte Lob, aber ein geräuschloses; er war sehr gebildet, aber ohne Prahlerei.
X. Von Alexander, dem Grammatiker lernte ich, wie man sich jeglicher Schimpfworte enthalten und es ohne Vorwurf hinnehmen kann, was einem auf fehlerhafte, rohe oder plumpe Art vorgebracht wird; ebenso aber auch, wie man sich geschickt nur über das, was gesagt werden muss, auszulassen habe, sei es in Form einer Antwort oder der Bestätigung oder der gemeinschaftlichen Ueberlegung über die Sache selbst, nicht über den Ausdruck, oder durch eine treffende anderweite Bemerkung.
XI. Durch Phronto gewann ich die Ueberzeugung, dass der Despotismus Missgunst, Unredlichkeit und Heuchelei in hohem Maße zu erzeugen pflege, und dass der Adelige und edel geborene, im allgemeinen ziemlich unedel sei.
XII. Alexander, der Platoniker brachte mir bei, dass ich mich nur selten und nie ohne Not zu jemand mündlich oder schriftlich äußern dürfe: ich hätte keine Zeit; und dass ich nicht so, unter dem Vorwande dringender Geschäfte, mich beständig weigern solle, die Pflichten zu erfüllen, die uns die Beziehungen zu denen, mit denen wir leben, auferlegen.
XIII. Catulus riet mir, dass ich es nicht unberücksichtigt lassen sollte, wenn sich ein Freund bei mir Ueber etwas beklage, selbst wenn er keinen Grund dazu hätte, sondern dass ich versuchen müsse, die Sache ins Reine zu bringen. Wie man von seinen Lehrern stark eingenommen sein kann, sah ich an ihm; ebenso aber auch, wie lieb man seine Kinder haben müsse.
XIV. An meinem Bruder Severus hatte ich häuslichen Sinn, Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe zu bewundern. Er machte mich mit Thraseas, Helvidius, Cato, Dio und Brutus bekannt und führte mich zu dem Begriff eines Staates, in welchem alle Bürger gleich sind vor dem Gesetz, und einer Regierung, die nichts so hoch hält als die bürgerliche Freiheit. Außerdem blieb er, um anderes zu übergehen, in der Achtung vor der Philosophie sich immer gleich; war wohltätig, ja in hohem Grade freigebig; hoffte immer das Beste und zweifelte nie an der Liebe seiner Freunde. Hatte er etwas gegen jemand, so hielt er damit nicht zurück, und seine Freunde hatten niemals nötig, ihn erst dar&uum;ber auszufragen, was er wollte oder nicht wollte, weil es offen am Tage lag.
XV. Von Maximus konnte ich lernen, mich selbst beherrschen, nicht hin- und herzuschwanken, guten Mutes zu sein in mißlichen Verhältnissen oder in Krankheiten auch wie man in seinem Benehmen Weisheit mit Würde verbinden muss, und an ein Werk, das rasch auszuführen ist, doch nicht unbesonnen gehen darf. Von ihm waren alle überzeugt, dass er gerade so dachte, wie er sprach, und was er tat, in guter Absicht tat. Etwas zu bewundern oder sich verblüffen zu lassen, zu eilen oder zu zögern, ratlos zu sein und niedergeschlagen oder ausgelassen in Freude oder Zorn oder argwöhnisch, das alles war seine Sache nicht. Aber wohltätig zu sein und versöhnlich, hielt er für seine Pflicht. Er hasste jede Unwahrheit und machte so mehr den Eindruck eines geraden als eines feinen Mannes. Niemals hat sich einer von ihm verachtet geglaubt; aber ebensowenig wagte es jemand, sich für besser zu halten als er war. Auch wusste er auf anmutige Weise zu scherzen.
Marc Aurels Vater
XVI. Mein Vater hatte in seinem Wesen etwas Sanftes, aber zugleich auch eine unerschütterliche Festigkeit in dem, was er gründlich erwogen hatte. Er war ohne Ehrgeiz hinsichtlich dessen, was man gewöhnlich Ehre nennt. Er arbeitete gern und unermüdlich. Wer mit Dingen kam, die das gemeine Wohl zu fördern versprachen, den hörte er an und versäumte es nie, einem jeden die Anerkennung zu zollen, die ihm gebührte. Wo vorwärts zu gehen und wo einzuhalten sei, wusste er. Er war gleich gegen jedermann; erließ den Freunden die Pflicht, immer mit ihm zu speisen oder, wenn er reiste, mit ihm zu gehen; und stets blieb er sich gleich auch gegen die, die er notgedrungen zu Hause ließ. Seine Erörterungen in den Ratsversammlungen waren stets sehr genau, und er hielt aus und begnügte sich nicht mit Ideen, die auf der flachen Hand liegen, bloß um die Versammlung für geschlossen zu erklären. Er war sorgsam bemüht, sich seine Freunde zu erhalten, wurde ihrer niemals überdrüssig, verlangte aber auch nicht heftig nach ihnen. Er war sich selbst genug in allen Stücken und immer heiter.
Er hatte einen scharfen Blick für das, was kommen würde, und traf für die kleinsten Dinge Vorbereitungen ohne Aufhebens zu machen, so wie er sich denn überhaupt jedes Beifallrufen und alle Schmeicheleien verbat. Was seiner Regierung notwendig war, überwachte er stets, ging mit den öffentlichen Geldern haushälterisch um und ließ es sich ruhig gefallen, wenn man ihm darüber Vorwürfe machte. Den Göttern gegenüber war er frei von Aberglauben, und was sein Verhältnis zu den Menschen betrifft, so fiel es ihm nicht ein, um die Volksgunst zu buhlen, dem großen Haufen sich gefällig zu zeigen und sich bei ihm einzuschmeicheln, sondern er war in allen Stücken nüchtern, besonnen, taktvoll und ohne Sucht nach Neuerungen. Von den Dingen, die zur Annehmlichkeit des Lebens beitragen – und deren bot ihm das Glück eine Menge dar – machte er ohne zu protzen, aber auch ohne sich zu entschuldigen Gebrauch, so dass er, was da war, einfach nahm, was nicht da war, auch nicht entbehrte. Niemand konnte sagen, dass er ein Nörgler, oder dass er ein gewöhnlicher Mensch oder ein Pedant sei, sondern man musste ihn einen reifen, vollendeten, über jede Schmeichelei erhabenen Mann nennen, der wohl imstande sei, eigenen und fremden Angelegenheiten vorzustehen. Außerdem: die echten Philosophen schätzte er sehr, ließ aber auch die andern unangetastet, obschon er ihnen keinen Einfluss auf sich einräumte.
In seinem Umgange war er ferner höchst liebenswürdig und witzig, ohne darin zu übertreiben. In der Sorge für seinen Leib wusste er das rechte Maß zu halten, nicht wie ein Lebenssüchtiger oder wie einer, der sich schniegelt oder sich vernachlässigt; sondern er brachte es durch die eigene Aufmerksamkeit nur dahin, dass er den Arzt fast gar nicht brauchte und weder innere noch äußere Mittel nötig hatte. Vor allem aber vermochte er es, denen, die wirklich etwas leisteten, sei es in der Beredsamkeit oder in der Gesetzeskunde oder in der Sittenlehre oder in irgendeinem anderen Fach, ohne Neid den Vorrang einzuräumen und sie wo er konnte zu unterstützen, damit ein jeder in seinem Fache auch die nötige Anerkennung fände. Wie seine Vorfahren geherrscht, so herrschte er auch, ohne jedoch die Meinung hervorrufen zu wollen, als wache er über dem Althergebrachten.
E r war nicht leicht zu bewegen oder von etwas abzubringen, sondern pflegte auch gern zu bleiben, wo er gerade war und wobei. Nach den heftigsten Kopfschmerzen sah man ihn frisch und kräftig zu den gewohnten Geschäften eilen. Geheimnisse pflegte er nur äußerst wenige und nur in seltenen Fällen zu haben und nur um des allgemeinen Wohles willen. Verständig und mäßig im Anordnen von Schauspielen, von Bauten, von Spenden an das Volk und ähnlichen Dingen, zeigte er sich als ein Mann, der nur auf seine Pflicht sieht, sich aber um den Ruhm nicht kümmert, den seine Handlungen ihm verschaffen können. Er badete nur zur gewöhnlichen Stunde, liebte das Bauen nicht, legte auf das Essen keinen Wert, auch nicht auf Kleider und deren Stoffe und Farben, noch auf schöne Sklaven. Seine Kleider ließ er sich meist aus Lorium, dem unteren Landgute, oder aus Lanubium kommen und bediente sich dazu des Generalpächters in Tusculum, der ihn um diesen Dienst gebeten hatte.
In seiner ganzen Art zu sein war nichts Unschickliches oder gar Unpassendes oder auch nur Ungestümes oder was man sagt: „bis zur Hitze“, sondern alles war bei ihm wohl überdacht, ruhig, gelassen, wohl geordnet, fest und mit sich selbst im Einklang. Man könnte auf ihn anwenden, was man vom Sokrates gesagt hat, dass er sowohl sich solcher Dinge zu enthalten imstande war, deren sich viele aus Schwachheit nicht enthalten können, als auch dass er genießen durfte, was viele darum nicht dürfen, weil sie sich gehen lassen. Das eine gründlich vertragen, und in dem andern nüchtern sein, das aber ist die Sache eines Mannes von starkem, unbesiegbaren Geiste, wie er ihn z.B. auch in der Krankheit des Maximus an den Tag gelegt hat.
Marc Aurel dankt den Göttern
XVII.
Den Göttern habe ich es zu danken, dass ich treffliche Vorfahren, treffliche Eltern, eine treffliche Schwester, treffliche Lehrer, treffliche Diener und fast lauter treffliche Verwandte und Freunde habe, und dass ich gegen keinen von ihnen Unrecht tat, obgleich ich bei meiner Natur leicht hätte dahin kommen können. Es ist eine Wohltat der Götter, dass die Umstände nicht so zusammentrafen, dass ich mir Schande auflud. Sie fügten es so, dass ich nicht länger von der Geliebten meines Großvaters erzogen wurde; dass ich meine Jugendfrische mir erhielt und dass ich meinem fürstlichen Vater gehorchte, der mir allen Dünkel austreiben und mich überzeugen wollte, man könne bei Hof leben ohne Leibwache, ohne kostbare Kleider, ohne Fackeln, ohne gewisse Bildsäulen und ähnlichen Pomp, und dass es sehr wohl anging, sich so viel als möglich bürgerlich einzurichten, wenn man dabei nur nicht zu demütig und zu sorglos würde in Erfüllung der Pflichten, die der Regent gegen das Ganze hat. Götter haben mir einen Bruder gegeben, dessen sittlicher Wandel mich antrieb, auf mich selbst aufzupassen, und dessen Achtung und Liebe mich glücklich machten. Sie haben mir Kinder gegeben, die nicht ohne geistige Anlagen sind und von gesundem Körper. Den Göttern verdanke ich es, dass ich nicht weiter kam in der Redekunst und in der Dichtkunst und in den übrigen Studien, welche mich völlig in Beschlag genommen hätten, wären mir gute Fortschritte beschieden gewesen. Ebenso dass ich meine Erzieher frühzeitig schon so in Ehren hielt, wie sie es zu verlangen schienen, und ihnen nicht bloß Hoffnung machte, ich würde das später tun, indem sie zu der Zeit ja noch so jung seien. Ferner, dass ich Apollonius, Rusticus und Maximus kennen lernte; dass ich das Bild eines Lebens im Einklang mit der Natur so klar und so oft vor der Seele hatte, dass es nicht an den Göttern und an den Gaben, Hilfen und Winken, die ich von dorther empfing, liegen kann, wenn ich an einem solchen Leben gehindert worden bin; sondern wenn ich es bisher nicht geführt habe, muss es meine Schuld sein, indem ich die Erinnerungen der Götter, ich möchte sagen, ihre ausdrücklichen Belehrungen, nicht beherzigte.
Den Göttern verdanke ich es, dass mein Körper ein solches Leben so lange ausgehalten hat; – dass ich weder die Benedicta noch den Theodot berührt habe, und dass ich später überhaupt von dieser Leidenschaft befreit wurde; dass ich in meinem heftigen Unwillen den ich so oft gegen Rusticus empfand, nichts weiter tat, was ich hätte bereuen müssen; und dass meine Mutter, der ein früher Tod beschieden war, doch noch ihre letzten Jahre bei mir leben konnte. Auch fügten sie es, dass ich, sooft ich einen Armen oder sonst Bedürftigen unterstützen wollte, nie hören durfte, es fehle mir an den hierzu erforderlichen Mitteln, und dass ich selbst nie in die Notwendigkeit versetzt wurde, bei einem anderen zu borgen; und dass ich ein solches Weib besitze: so folgsam, zärtlich und in ihren Sitten so einfach, und dass ich meinen Kindern tüchtige Erzieher geben konnte. Die Götter gaben mir durch Träume Hilfsmittel an die Hand gegen allerlei Krankheiten so gegen Blutauswurf und Schwindel. Auch verhüteten sie, als ich das Studium der Philosophie anfing, dass ich einem Sophisten in die Hände fiel oder mit einem solchen Schriftsteller meine Zeit verdarb, oder mit der Lösung ihrer Trugschlüsse mich einließ, oder mit der Himmelskunde mich beschäftigte. Denn zu allen diesen Dingen bedarf es der helfenden Götter und des Glückes.
Geschrieben bei den Quaden am Granna.
Marc Aurel zum Umgang mit schwierigen Menschen
XVIII.
Man muss sich beizeiten sagen: ich werde einem vorwitzigen, einem undankbaren, einem schmähsüchtigen, einem verschlagenen oder neidischen oder unverträglichen Menschen begegnen. Denn solche Eigenschaften liegen jedem nahe, der die wahren Güter und die wahren Uebel nicht kennt. Habe ich aber eingesehen, einmal, dass nur die Tugend ein Gut und nur das Laster ein Uebel, und dann, dass der, der Böses tut, mir verwandt ist, nicht sowohl nach Blut und Abstammung, als in der Gesinnung und in dem, was der Mensch von den Göttern hat, so kann ich weder von jemand unter ihnen Schaden leiden – denn ich lasse mich nicht verführen – noch kann ich dem, der mir verwandt ist, zürnen oder mich feindlich von ihm abwenden, da wir ja dazu geboren sind, uns gegenseitig zu unterstützen, wie die Füße, die Hände, die Augenlider, die Reihen der oberen und unteren Zähne einander dienen. Also ist es gegen die Natur, einander feindlich zu leben. Und das tut doch, wer auf jemand zürnt oder ihm entgegenwirkt.
XIX.
Was ich bin, ist ein Dreifaches: Körper und Seele und was das Ganze beherrscht. Lege beiseite, was dich zerstreut, die Bücher und alles, was hier zu nichts führt; des Fleischlichen achte gering wie einer, der bald sterben muss! Es ist Blut und Knochen und ein Geflecht aus Nerven, Adern und Gefäßen gewebt.
Dann betrachte deine Seele, und was sie ist: ein Hauch; nicht immer dasselbe, sondern fortwährend ausgegeben und wieder eingesogen. Drittens also das, was die Herrschaft führt! Da sei doch kein Narr, du bist nicht mehr jung: so lass auch nicht länger geschehen dass es diene; dass es hingenommen werde von einem Zuge, der dich dem Menschlichen entfremdet; dass es dem Verhängnis oder dem gegenwärtigen Augenblicke grolle oder ausweiche dem, was kommen soll!
XX.
Das Göttliche ist voll von Spuren der Vorsehung, das Zufällige nach Art, Zusammenhang und Verflechtung ist nicht zu trennen von dem durch die Vorsehung Geordneten. Alles fließt von hier aus. Daneben das Notwendige und was dem Weltall, dessen Teil du bist, zuträglich ist. Jedem Teile der Natur aber ist das gut, was seinen Halt an der Natur des Ganzen hat und wovon diese wiederum getragen wird. Die Welt aber wird getragen wie von den Verwandlungen der Grundstoffe so auch von denen der zusammengesetzten Dinge. Das muss dir genügen und feststehen für immer. Nach der Weisheit, wie sie in Büchern zu finden ist, strebe nicht, sondern halte sie dir fern, damit du ohne Seufzer, mit wahrer Seelenruhe und den Göttern von Herzen dankbar sterben kannst.
Mark Aurel: Selbstbetrachtungen. Zweites Buch.
I
Erinnere dich, seit wann du diese Betrachtungen nun schon aufschiebst, und wie oft dir die Götter Zeit und Stunde dazu gegeben haben, ohne dass du sie genutzt hast. Endlich solltest du doch einmal einsehen, was das für eine Welt ist, der du angehörst, und wie der die Welt regiert, dessen Resultat du bist; und dass dir die Zeit zugemessen ist, die, wenn du sie nicht brauchst dich abzuklären, vergehen wird, wie du selbst, und nicht wiederkommen.
II
Immer sei darauf bedacht, wie es einem Manne geziemt, bei allem, was es zu tun gibt, eine strenge und ungekünstelte Gewissenhaftigkeit, Liebe, Freimut und Gerechtigkeit zu üben, und dir dabei alle Nebengedanken fernzuhalten. Und du wirst sie dir fernhalten, sobald du jede deiner Handlungen als die letzte im Leben ansiehst: fern von jeder Unbesonnenheit und der Erregtheit, die dich taub macht gegen die Stimme der richtenden Vernunft, frei von Verstellung von Selbstliebe und von Unwillen über das, was das Schicksal dir beschieden hat. Du siehst, wie wenig es ist, was man sich aneignen muss, um ein glückliches, ja göttliches Leben zu führen. Denn auch die Götter verlangen nicht mehr von dem, der dies beobachtet.
Marc Aurel über die Empfindlichkeit der Seele
III.
Fahre nur immer fort, dir selbst zu schaden, liebe Seele! Dich zu fördern wirst du kaum noch Zeit haben. Denn das Leben flieht einen jeglichen. Für dich ist es aber schon so gut als zu Ende, der du ohne Selbstachtung dein Glück aus dir heraus verlegst in die Seelen anderer.
IV.
Trotz deines Bestrebens, an Erkenntnis zu wachsen und dein unstetes Wesen aufzugeben, zerstreuen dich die Außendinge noch immer? Mag sein, wenn du jenes Streben nur festhältst. Denn das bleibt die größte Torheit, sich müde zu arbeiten ohne ein Ziel, auf das man all sein Dichten und Trachten lenkt.
V.
Wenn man nicht herausbringen kann, was in des andern Seele vorgeht, so ist das schwerlich ein Unglück; aber notwendigerweise unglücklich ist man, wenn man über die Regungen der eigenen Seele im unklaren ist.
VI.
Daran musst du immer denken, was das Wesen der Welt und was das deinige ist, und wie sich beides zueinander verhält, nämlich was für ein Teil des Ganzen du bist und zu welchem Ganzen du gehörst, und dass dich niemand hindern kann, stets nur das zu tun und zu reden, was dem Ganzen entspricht, dessen Teil du bist.
VII.
Theophrast sagt in seiner Vergleichung der menschlichen Fehler – wie diese denn allenfalls verglichen werden können: schwerer seien die, die aus Begierde, als die, welche aus Zorn begangen werden. Und wirklich erscheint der Zornige als ein Mensch, der nur mit einem gewissen Schmerz und mit innerem Widerstreben von der Vernunft abgekommen ist, während der aus Begierde Fehlende, weil ihn die Lust überwältigt, zügelloser erscheint und schwächer in seinen Fehlern. Wenn er nun also behauptet: es zeuge von größerer Schuld, einen Fehler zu begehen mit Freuden als mit Bedauern, so ist das gewiss richtig und der Philosophie nur angemessen. Man erklärt dann öberhaupt den einen für einen Menschen, der gekränkt worden ist und zu seinem eigenen Leidwesen zum Zorn gezwungen wird, während man bei dem andern, der etwas aus Begierde tut, die Sache so ansieht, als begehe er das Unrecht aus heiler Haut.
VIII.
Jegliches tun und bedenken wie einer, der im Begriff ist, das Leben zu verlassen, das ist das Richtige. Das Fortgehen von den Menschen aber, wenn es Götter gibt, ist kein Unglück. Denn das Uebel hört dann wohl auf. Gibt es aber keine, oder kümmern sie sich nicht um die menschlichen Dinge, was soll mir das Leben in einer götterleeren Welt, in einer Welt ohne Vorsehung? Doch sie sind und sie kümmern sich um die menschlichen Dinge. Noch mehr. Sie haben es, was die Uebel betrifft, und zwar die eigentlichen, ganz in des Menschen Hand gelegt, sich davor zu bewahren. Ja auch hinsichtlich der sonstigen Uebel, kann man sagen, haben sie es so eingerichtet, dass es nur auf uns ankommt, ob sie uns widerfahren werden.
Anmerkung: An dieser Stelle widerspricht Marc Aurel seinem übrigen Text der Selbstbetrachtungen. Denn der Handlungsspielraum des Menschen ist begrenzt.
Denn wie sollte etwas, wobei der Mensch nicht schlimmer wird, sein Leben verschlimmern? Selbst die bloße Natur – sei es, dass wir sie uns ohne Bewusstsein oder mit Bewusstsein ausgestattet vorstellen; gewiss ist, dass sie nicht vermag, dem Uebel vorzubeugen oder es wieder gut zu machen – hätte dergleichen nicht übersehen, hätte nicht in dem Ausmaß Fehler begangen aus Ohnmacht oder aus Mangel an Anlage, dass sie Gutes und Böses in gleicher Weise guten und bösen Menschen unterschiedslos zuteil werden ließe. Tod aber und Leben, Ruhm und Ruhmlosigkeit, Leid und Freude, Reichtum und Armut und alles dieses wird den guten wie den bösen Menschen ohne Unterschied zuteil, als Dinge, die weder sittliche Vorzüge noch sittliche Mängel begründen: also sind sie auch weder gut noch böse (weder ein Glück noch ein Unglück).
Selbstbetrachtungen. Zweites Buch.
IX.
Wie doch alles so schnell verbleicht! In der sichtbaren Welt die Leiber, in der Geisteswelt deren Gedächtnis! Was ist doch alles Sinnliche, zumal was durch Vergnügen anlockt oder durch Schmerz abschreckt oder in Stolz und Hochmut sich breit macht! Wie nichtig und verächtlich, wie schmutzig, hinfällig, tot!–Man folge dem Zug des Geistes; man frage nach denen, die sich durch Werke des Geistes berühmt gemacht haben; man untersuche, was eigentlich sterben heißt (und man wird, wenn man der Phantasie keinen Einfluss auf seine Gedanken verstattet, darin nichts anderes als ein Werk der Natur erkennen: kindisch aber wäre es doch, vor einem Werk der Natur, das derselben ohnehin auch noch zuträglich ist, sich zu fürchten); man mache sich klar, wie der Mensch Gott ergreift und mit welchem Teile seines Wesens, und wie es mit diesem Teile des Menschen bestellt ist, wenn er Gott ergriffen hat.
Nicht im Kreise laufen
X.
Nichts Elenderes existiert als ein Mensch, der alles wie im Kreise durchläuft, die Tiefen der Erde ergründen will, wie Pindar sagt, der um alles und jedes sich kümmert, auch um das, woran sonst niemand denkt, der nicht aufhört über die Vorgänge in der Seele des Nächsten seine Gedanken zu machen und nicht begreifen mag, dass es genug ist, für den Gott in der eignen Brust zu leben und ihm zu dienen, wie es sich gebührt. Das aber ist sein Dienst: ihn rein zu erhalten von Leidenschaft von Unbesonnenheit und von Unlust über das, was von Göttern und Menschen geschieht. Denn die Handlungen der Götter zu ehren, gebietet die Tugend, und mit denen der Menschen sich zu befreunden die Gleichheit der Abkunft, obwohl die letzteren allerdings auch zuweilen etwas Klägliches haben, weil soviele nicht wissen, was Güter und was Uebel sind -eine Blindheit, nicht geringer als die, wenn man Schwarz und Weiß nicht unterscheiden kann.
Marc Aurel über die Kürze des Lebens
XI.
Und wenn du dreitausend Jahre leben solltest, ja noch zehnmal mehr, es hat ja doch niemand ein anderes Leben zu verlieren, als eben das, was er lebt, so wie niemand ein anderes lebt, als was er einmal verlieren wird. Und so läuft das längste wie das kürzeste auf dasselbe hinaus. Denn das Jetzt ist das Gleiche für alle, wenn auch das Vergangene nicht gleich ist, und der Verlust des Lebens erscheint doch so als ein Jetzt, indem niemand verlieren kann weder was vergangen noch was zukünftig ist. Oder wie sollte man einem etwas abnehmen können, was er nicht besitzt? An die beiden Dinge also müssen wir denken: einmal, dass alles seinem Wesen nach unter sich gleichartig ist und von gleichem Verlauf, und dass es keinen Unterschied macht, ob man hundert oder zweihundert Jahre lang oder ewig ein und dasselbe sieht. Und dann, dass auch der, der am längsten gelebt hat, doch nur dasselbe verliert, wie der, der sehr jung stirbt. Denn nur das Jetzt ist es, dessen man beraubt werden kann, weil man nur dieses besitzt, und niemand kann verlieren, was er nicht hat.
Mark Aurel über Stoiker und Kyniker
XII.
Alles beruht auf der Ansicht! Dafür zeugen die Aussprüche des Kynikers Menimus und für diesen zeugt wieder die Brauchbarkeit des Gesagten, wenn man es auf das Wahre darin einschränkt.
XIII.
Die Seele des Menschen tut sich selbst den größten Schaden, wenn sie sich von der Natur abzusondern, gleichsam aus ihr herauszuwachsen strebt. So, wenn sie unzufrieden ist über irgend etwas, das sich ereignet. Es ist dies ein entschiedener Abfall von der Natur, in der ja diese eigentümliche Verkettung der Umstände begründet ist. Ebenso, wenn sie jemand verabscheut oder anfeindet oder im Begriff ist, jemand weh zu tun, wie allemal im Zorn. Ebenso wenn sie von Lust oder von Schmerz sich hinnehmen lässt; oder wenn sie heuchelt, heuchlerisch und unwahr etwas tut oder spricht; oder wenn ihre Handlungen und Triebe keinen Zweck haben, sondern ins Blaue hinausgehen und über sich selbst völlig im unklaren sind. Denn auch das Kleinste muss in Beziehung zu einem Zweck gesetzt werden. Der Zweck aber aller vernunftbegabten Wesen ist: den Grundsätzen und Satzungen des ältesten Gemeinwesens Folge zu leisten.
Die Natur ist gut
XIV.
Das menschliche Leben ist, was seine Dauer betrifft, ein Punkt; des Menschen Wesen flüssig, sein Empfinden trübe, die Substanz seines Leibes leicht verweslich, seine Seele einem Kreisel vergleichbar, sein Schicksal schwer zu bestimmen, sein Ruf eine zweifelhafte Sache. Kurz, alles Leibliche an ihm ist wie ein Strom, und alles Seelische ein Traum, ein Rauch: sein Leben Krieg und Wanderung, sein Nachruhm Vergessenheit. Was ist es nun, das ihn über das alles zu erheben vermag? Einzig die Philosophie, sie, die uns lehrt, den göttlichen Funken, den wir in uns tragen, rein und unverletzt zu erhalten, dass er Herr sei über Freude und Leid, dass er nichts ohne Ueberlegung tue, nichts erlüge und erheuchele und stets unabhängig sei von dem, was andere tun oder nicht tun, dass er alles, was ihm widerfährt und was ihm zugeteilt wird, so aufnehme, als komme es von da, von wo er selbst gekommen, und dass er endlich den Tod mit heiterem Sinn erwarte, als den Moment der Trennung aller Elemente, aus denen jegliches lebendiges Wesen besteht. Denn wenn den Elementen dadurch nichts Schlimmes widerfährt, dass sie fortwährend ineinander übergehen, weshalb sollte man sich scheuen vor der Verwandlung und Lösung aller auf einmal? Vielmehr ist dies das Naturgemüße, und das Naturgemäße ist niemals vom Übel.
Mark Aurel: Selbstbetrachtungen. Drittes Buch.
I.
Wir müssen uns nicht bloß bedenken, dass das Leben mit jedem Tage schwindet und ein immer kleinerer Teil davon übrigbleibt, sondern auch beherzigen, dass es ja ungewiss ist, wenn man ein längeres Leben vor sich hat, ob sich die Geisteskräfte immer gleichbleiben und zum Verständnis der Dinge, so wie zu all den Wahrnehmungen und Betrachtungen hinreichen werden, die uns auf dem Gebiete des Göttlichen und Menschlichen erfahren machen. Denn viele werden im Alter kindisch! Und bei wem ein solcher Zustand eingetreten ist, dem fehlt es zwar nicht an der Fähigkeit zu atmen, sich zu nähren, sich etwas vorzustellen und etwas zu begehren; aber das Vermögen, sich frei zu bestimmen, die Reihe seiner Pflichten zu überschauen, die Wahrnehmung sich zu ordnen und darüber, ob es Zeit zum Sterben sei oder was sonst einer durchaus geweckten Denkkraft bedarf, sich klar zu werden – das ist bei ihm erloschen. Also eilen muss man, nicht bloß weil uns der Tod mit jedem Tage näher tritt, sondern auch weil die Fähigkeit, die Dinge zu betrachten und zu verfolgen, oft vorher aufhört.
II.
Merkwürdig ist, wie an den Erzeugnissen der Natur auch das, was nur beiläfig ist, einen gewissen Reiz ausübt. So machen z.B. die Risse und Sprünge im Brot, die gewissermaßen gegen die Absicht des Bäckers sind, die Esslust besonders rege. Ebenso geht es mit den Feigen, die, wenn sie überreif sind, aufbrechen, und den Oliven, die gerade wegen der Stellen geschätzt werden, wo sie nahe daran sind, faul zu werden. Die niederhängenden Aehren, die Stirnfalte des Löwen, der Schaum am Munde des Ebers und manches andere dergleichen hat freilich keinen Reiz, wenn man es für sich betrachtet; aber weil es uns an den Werken der Natur und im Zusammenhange mit ihnen entgegentritt, erscheint es als eine Zierde und wirkt anziehend. Fehlt es uns also nur nicht an Empfänglichkeit und an Tiefe des Blicks in die Welt der Dinge, so werden wir kaum etwas von solchen Nebensächlichkeiten auffinden, was uns nicht angenehm erschien. Ebenso werden wir dann aber auch z.B. wirkliche Tierkämpfe nicht weniger gern ansehen, als die Darstellungen, die uns Maler und Bildhauer davon geben; und unser keusches Auge wird mit gleichem Wohlgefallen auf der würdigen Gestalt des Greises wie auf der liebreizenden des Mädchens ruhen. Doch gehört dazu eben eine innige Vertrautheit mit der Natur und ihren Werken.
Marc Aurel über Hippokrates
III.
Hippokrates hat viele Krankheiten geheilt, dann ist er selbst an einer Krankheit gestorben. Die Chaldäer weissagten vielen den Tod, dann hat sie selber das Geschick ereilt. Alexander, Pompejus, Cäsar – nachdem sie so manche Stadt von Grund aus zerstört und in der Schlacht soviele Tausende ums Leben gebracht, schieden selbst aus dem Leben. Heraklit, der über den Weltbrand philosophiert, starb an der Wassersucht, den Demokrit brachte das Ungeziefer um, den Sokrates ein Ungeziefer anderer Art. Kurz, zu einem jeden heißt es einmal: du bist eingestiegen, gefahren, im Hafen eingelaufen: so steige nun aus! Geht es in ein anderes Leben – gewiss in keins, das ohne Götter ist. Ist es aber ein Zustand der Unempfindlichkeit – auch gut: wir hören auf von Leid und Freude hin gehalten zu werden und verlassen ein Behältnis von um so schlechterer Art je edler der Eingeschlossene, denn er ist Geist und göttlichen Wesens, jenes aber Staub und verweslicher Stoff.
Marc Aurel über die Charaktereigenschaften eines Priesters
IV.
Verschwende deine Zeit nicht mit Gedanken über das, was andere angeht, es sei denn, dass du jemand damit helfen kannst. Du versäumst offenbar notwendigere Dinge, wenn dich nichts weiter beschäftigt, als was der und jener macht und aus welchem Grunde er so handelt, was er sagt oder will oder anstellt. So etwas zieht den Geist nur ab von der Beobachtung seiner selbst. Man muss alles Eitle und Vergebliche aus der Kette der Gedanken zu entfernen suchen, vorzüglich alle unwürdige Neugier, und sich nur an solche Gedanken gewöhnen, über die wir sofort, wenn uns jemand fragt, was wir gerade denken, gern und mit aller Offenheit Rechenschaft geben können, So dass man gleicht sieht: hier ist alles lauter und gut und so, wie es einem Teil der menschlichen Gesellschaft geziemt, hier wohnt nichts von Genusssucht und Lüsternheit, nichts von Zank oder Neid oder Misstrauen, nichts von alle dem, wovon der Mensch nur mit Erröten gestehen kann, dass es seine Seele beschäftige. Und ein solcher Mensch – dem es nun ja auch nicht an dem Streben nach Auszeichnung fehlen kann – ist ein Priester und Diener der Götter, der Gewinn aus dem inneren Gottesbewusstsein zu ziehen weiß, so dass ihn keine Lust beflecken, kein Schmerz verwunden, kein Stolz berücken, nichts Böses überhaupt reizen kann; er ist ein Held in jenem großen Kampf gegen die Leidenschaft und eingetaucht in das Wesen der Gerechtigkeit vermag er jegliches Geschick von ganzer Seele zu begrüßen.
Ein solcher Mensch aber denkt selten und nur, wenn es das allgemeine Beste erfordert, an das, was andere sagen oder tun oder meinen. Sondern die eigene Pflicht ist der einzige Gegenstand seines Tuns, so wie, was ihm das Schicksal gesponnen im Gewebe des Ganzen, der Hauptgegenstand seines Nachdenkens. Dort hält er Tugend, hier den guten Glauben. Und in der Tat ist jedem zuträglich, was sich mit ihm zuträgt nach dem Willen des Schicksals. Stets ist ihm bewusst, dass alle Vernunftwesen einander verwandt sind, und dass es zur menschlichen Natur gehört, für andere zu sorgen. Nach Ansehen strebt er nur bei denen, die ein naturgemäßes Leben führen, da er ja weiß, was die, die nicht so leben, sind, wie sie es zu Hause und außer dem Hause, am Tage und bei Nacht und mit wem sie ihr Wesen treiben. Das Lob derer also, die nicht sich selber zu genügen wissen, hat für ihn nicht den geringsten Wert.
Aufrecht stehen, nicht aufrichten lassen
V.
Tue nichts mit Widerwillen, nichts ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl, nichts ungeprüft, nichts wobei du noch ein Bedenken hast. Drücke deine Gedanken aus ohne Ziererei. Sei kein Schwätzer und kein Vielgeschäftiger. Sondern mit einem Worte: der Gott in dir führe das Regiment, welchem Geschlecht, Alter, Beruf, welcher Abkunft und Stellung du nun auch angehören magst, so dass du immer in der Verfassung bist, wenn du abgerufen werden solltest, gern und willig zu folgen. Eidschwur und Zeugenschaft musst du immer entbehren können. Innerlich aber sei heiter, nicht bedürfend, dass die Hilfe von außen dir komme, auch nicht des Friedens bedürftig, den andere uns geben können. Steh aufrecht, heißt es, nicht: lasse dich stellen!
VI.
Kannst du im menschlichen Leben etwas Besseres finden als Gerechtigkeit, Wahrheit, Selbstbeherrschung, Tapferkeit oder mit einem Wort: als den Zustand der Seele, wo du in allem, was eine Sache der Vernunft und Selbstbestimmung ist, mit dir selbst, in dem aber, was ohne dich geschieht, mit dem Schicksale zufrieden bist; kannst du, sage ich, etwas entdecken, was noch besser ist als dies, so wende dich dem mit ganzer Seele zu und freue dich, dass du das Beste aufgefunden hast. Sollte es aber in Wahrheit nichts Besseres geben, als den in dir wohnenden Gott, der deine Begierden sich untertänig zu machen weiß, der die Gedanken prüft, den sinnlichen Empfindungen, wie Sokrates sagt, sich zu entziehen sucht, und der sich selbst – den Göttern unterwirft und für das Wohl der Menschen Sorge trägt: solltest du finden, dass gegen dieses alles andere gering ist und verschwindet, so folge nun auch keiner anderen Stimme und lass in deine Seele nichts eindringen, was, wenn es dich einmal angezogen, dich an der ungeteilten Pflege jenes herrlichen Schatzes, deines Eigentums, hindert. Denn diesem Gute, dem höchsten nach Wesen und Wirkung, irgend etwas anderes wie Ehre, Herrschaft, Reichtum, Genuss an die Seite setzen zu wollen, wäre Torheit, weil uns all dieses, selbst wenn wir es nur ein wenig anziehend finden, dann mit einem Male ganz in Beschlag nimmt und verführt.
Darum sage ich, man solle einfach und unbedingt das Bessere wählen und ihm anhängen. Das Bessere ist aber auch immer zugleich das Zuträgliche, sei es, dass es uns ehrt als denkenden oder als empfindenden Wesen. Finden wir nun etwas, das uns als Vernunftwesen zu fördern verspricht, so müssen wir es festhalten und pflegen. Ist es aber nur für unser Empfinden zuträglich, so haben wir es mit Bescheidenheit und schlichtem Sinn hin zunehmen, und nur dafür zu sorgen, dass wir uns unser gesundes Urteil bewahren und fortgesetzt die Dinge gehörig prüfen.
Hass ist ein schlechter Ratgeber
VII.
ilde dir nie ein, dass etwas gut für dich sein könnte, was dich nötigt, einmal die Treue zu brechen, die Scham zu verletzen, jemand zu hassen, argwöhnisch zu sein, in Verwünschungen auszubrechen, dich zu verstellen oder Dinge zu begehren, bei denen man Vorhänge und verschlossene Türen braucht. Derjenige, welcher die Vernunft, seinen Genius und deren Dienst jederzeit die erste Rolle spielen lässt, wird nie zu einer Tragödie Anlass geben oder seufzen oder die Einsamkeit oder große Gesellschaft suchen; er wird leben im höchsten Sinne des Worts und weder auf der Jagd noch auf der Flucht. Ob seine Seele auf lange oder kurze Zeit im Leibe eingeschlossen bleiben soll, kümmert ihn wenig; er würde, auch wenn er bald scheiden müsste, sich dazu ganz ebenso auf den Weg machen, wie wenn es gelte, irgend etwas anderes mit Anstand und mit edlem Wesen auszuführen; sondern wofür er durchs ganze Leben Sorge trägt, ist nur das, dass seine Seele sich stets in einem Zustande befinde, der einem auf das Zusammenleben mit andern angewiesenen vernünftigen Wesen entspricht. VIII.
In der Seele eines Menschen, der in Zucht und Schranken gehalten worden und so zur Ruhe gekommen ist, findet man nun auch jene Wunden und Schäden nicht mehr, die so häufig unter einer gesunden Oberfläche heimlich fortwuchern. Nichts Knechtisches ist in ihm und nichts Geziertes; sein Wesen hat nichts besonders Verbindliches, aber auch nichts Abstoßendes; ihn drückt keine Schuld und nichts, was ihn zu Heimlichkeiten nötigte. Auch hat ein solcher Mensch wirklich „vollendet“, wenn ihn das Schicksal ereilt, was man von andern oft nur mit demselben Rechte sagt, wie von dem Helden eines Dramas, dass er ein tragischer sei, noch ehe das Stück geendet hat.
IX.
Was die Fähigkeit zu urteilen und Schlüsse zu machen anbetrifft, so musst du sie in Ehren halten. Denn es wohnt ihr die Kraft bei, zu verhüten, dass sich in deiner Seele irgendeine Ansicht festsetze, welche widernatürlich ist oder einem vernunftbegabten Wesen unangemessen. Ihre Bestimmung ist, uns geistig unabhängig zu machen, den Menschen zugetan und den Göttern gehorsam.
X.
Alles übrige ist Nebensache. Das Wenige, was ich gesagt habe, reicht völlig hin. Dabei bleibe man sich bewusst, dass jeder eigentlich nur dem gegenwärtigen Augenblick lebe. Denn alles übrige ist entweder durchlebt oder in Dunkel gehüllt. Also ein Kleines ist es, was jeder lebt, und ein Kleines, wo er lebt – das Winkelchen Erde, und ein Kleines der Ruhm, auch der größte, den er hinterlässt: damit er weiterlebe in der Kette dieser Menschenkinder, die so geschwind sterben müssen und die nicht einmal sich selbst begreifen, geschweige denn einen längst vor ihnen Gestorbenen!
Marc Aurel über die Notwendigkeit, mit klaren Begriffen zu denken
XI.
Den aufgestellten Lebensregeln ist aber noch eine hinzuzufügen. Von jedem Gegenstande, der sich deinem Nachdenken darbietet, suche dir stets einen klaren und bestimmten Begriff zu machen, so dass du weißt, was er an sich und was er nach allen seinen Beziehungen ist, damit du ihn selbst sowohl wie seine einzelnen Momente nennen und bezeichnen kannst. Denn nichts erzeugt in dem Grad hohen Sinn und edle Denkungsart, als wenn man imstande ist, sich von jeder im Leben gemachten Erfahrung, dem Wesen ihres Gegenstandes und ihrer Vermittlung nach, Rechenschaft zu geben, und alle Begebenheiten so anzusehen, dass man bei sich überlegt, in welchem Zusammenhang sie erscheinen und welche Stelle sie in demselben einnehmen, welchen Wert sie für das Ganze haben und was sie dem Menschen bedeuten, diesem Bürger eines höchsten Reiches, zu dem sich die übrigen Reiche wie die einzelnen Häuser zu der ganzen Ortschaft verhalten dass man weiß, was man jedesmal vor sich hat, wo es sich herschreibt und wie lange es bestehen wird, und wie sich der Mensch dazu zu verhalten habe, ob milde oder tapfer, zweifelsüchtig oder vertrauend voll, hingebend oder auf sich selbst beruhend; so dass man sich von jedem Einzelnen sagen muss, entweder: es kommt von Gott, oder: es ist ein Stück jenes großen Gewebes, das das Schicksal spinnt, und so und so gefügt, oder endlich: es kommt von einem unsrer Genossen und Brüder, der nicht gewusst hat, was naturgemäß ist.
Gleichgültige Dinge
Du aber weißt es, und darum begegnest du ihm, wie es das natürliche Gesetz der Gemeinschaft fordert, mit Liebe und Gerechtigkeit. Und auch in gleichgültigen Dingen zeigst du ein ihrem Wert entsprechendes Verhalten.
XII.
Wenn du der gesunden Vernunft folgst und bei dem, was dir zu tun gerade obliegt, mit Eifer, Kraft und Liebe tätig bist, ohne dass dich ein anderer Gedanke dabei leitet, als der, dein Inneres rein zu erhalten, als solltest du bald deinen Geist aufgeben; wenn du dich auf diese Weise beherrschst und dabei weder zögerst noch eilst, sondern dir genügen lässest an der dir von Natur zu Gebote stehenden Energie und an der Wahrhaftigkeit, die aus jedem deiner Worte hervor leuchten muss, so wirst du ein glückliches Leben führen. Und ich wüßte nicht, wer dich daran hindern sollte.
XIII.
Wie die Aerzte zu raschen Heilungen stets ihre Instrumente und Eisen zur Hand haben, so musst du zur Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge die Lehren der Philosophie in steter Bereitschaft halten, damit du in allem, auch im Kleinsten, immer so handelst wie einer, der sich des Zusammenhangs beider bewusst ist. Denn Menschliches lässt sich ebensowenig richtig behandeln ohne Beziehung auf Göttliches als umgekehrt.
XIV.
Höre endlich auf, dich selbst zu verwirren! Es ist nicht daran zu denken, dass du dazu kommst, was du dir für spätere Zeiten deines Lebens aufbehalten hattest, dies und jenes zu treiben und zu lesen und wieder hervorzusuchen. Darum gib solche törichten Pläne auf, und wenn du dich selber lieb hast, schaffe dir – noch vermagst du es – eiligst die Hilfe, deren du bedarfst!
XV.
In manchem Wort, das unbedeutend scheint, wie z.B. Stehlen, Säen, Kaufen, Ruhen, Sehen, was es zu tun gibt, liegt oft ein tieferer Sinn. Wie mancher sagt: „ich will doch sehen, was es gibt“, und denkt nicht daran, dass es dazu eines anderen Schauens bedarf, als das der Augen.
Marc Aurel über den zornigen Nero
XVI.
Leib, Seele, Geist – das war jene Dreiheit: der Leib mit seinen Empfindungen, die Seele mit ihren Begierden und der Geist mit seinen Erkenntnissen. Aber Bilder und Vorstellungen haben auch unsere Haustiere; von Begierden in Bewegung gesetzt werden auch die wilden Tiere oder Menschen, die nicht mehr Menschen sind, ein Phalaris, ein Nero; in allem, was vorteilhaft scheint, sich vom Geiste leiten zu lassen, ist auch die Sache solcher, die das Dasein der Götter leugnen, das Vaterland verraten und die schändlichsten Dinge tun, sobald es nur niemand sieht. Wenn soweit also jenes etwas allen Gemeinsames ist, so bleibt als das dem Guten Eigentümliche nur übrig, das ihm vom Schicksal Bestimmte willkommen zu heißen, das Heiligtum in seiner Brust nicht zu entweihen, sich nicht durch Gedankenmenge zu verwirren, sondern im Gleichmaß zu verharren, der Stimme des Gottes zu folgen, nichts zu reden wider die Wahrheit und nichts zu tun wider die Gerechtigkeit. Und dass man dabei ein einfaches, züchtiges und wohlgemutes Leben führt, daran sollte eigentlich niemand zweifeln. Geschähe es aber, wir würden deshalb doch keinem zürnen, noch von dem Wege weichen, der an das Ziel des Lebens führt, bei welchem wir unbefleckt, gelassen, wohlgerüstet und willig dem Schicksal gehorchend ankommen müssen.