Selbstbetrachtungen. Viertes Buch.
I.
Wenn der in uns herrschende Geist seiner Natur folgt, kann es uns - den
Ereignissen gegenüber - nicht schwer fallen, auf alles
vorbereitet zu sein und das Gegebene hinzunehmen.
as Festbestimmte,
Abgemachte ist es dann überhaupt nicht, wofür wir Interesse haben,
sondern: was uns gut und wünschenswert scheint, ist doch immer nur mit
Vorbehalt ein Gegenstand unseres Strebens; was sich uns aber geradezu in
den Weg stellt, betrachten wir als ein Mittel zu unserer Uebung: der
Flamme gleich, die sich auch solcher Stoffe zu bemächtigen weiß, deren
Berührung ein kleineres Licht verlöschen würde, aber ein helles Feuer
nimmt in sich auf und verzehrt, was man ihm zuführt, und wird nur größer
dadurch.
II.
Bei allem, was du tust, gehe besonnen zu Werke und so, dass du dabei die
höchste Lebenskunst im Auge hast!
Innerlicher Rückzug
III.
Man liebt es, sich zuzeiten aufs Land, ins Gebirge, an die See
zurückzuziehn. Auch du sehnst dich vielleicht dahin. Im Grunde genommen
aber steckt dahinter eine große Beschränktheit. Es steht dir ja frei, zu
jeglicher Stunde dich in dich selbst zurückzuziehn, und nirgends finden
wir eine so friedliche und ungestörte Zuflucht als in der eignen Seele,
sobald wir nur etwas von dem in uns tragen, was wir nur anzuschauen
brauchen, um uns in eine vollkommen ruhige und glückliche Stimmung
versetzt zu sehen-eine Stimmung, die nach meiner Ansicht freilich ein
anständiges, sittliches Wesen bedingt. Auf diese Weise also ziehe dich
beständig zurück, um dich immer wieder aufzufrischen. Einfach und klar
und bestimmt aber seien jene Ideen, die aus deiner Seele so manches
hinweg spülen, wenn du sie dir vergegenwärtigst, und dir eine Zuflucht
schaffen sollen, aus der du nicht schlecht gelaunt zurückkehrst. Und was
sollte dich auch dann verdrießen? "Die Schlechtigkeit der Menschen?"

ber wenn du bedenkst, dass die vernünftigen Wesen füreinander geboren
sind, dass das Ertragen des Unrechts zur Gerechtigkeit gehört, dass die
Menschen unfreiwillig sündigen, und dann--wie viel streitsüchtige,
argwöhnische, gehässige und gewalttätige Menschen dahin gemusst haben und
nun ein Raub der Verwesung sind - wirst du da deine Abneigung nicht los
werden? "Oder ist es dein Schicksal?" So erinnere dich nur jener
zwei Möglichkeiten: entweder wir sagen: es gibt eine Vorsehung, oder: wir sehen
uns als Teile und Glieder eines Ganzen an, und unserer Betrachtung der
Welt liegt die Idee eines Reiches zugrunde. "Oder ist es dein Leib, der
irgendwie schmerzt?" Aber du weißt ja, der Geist, wenn er sich selbst
begriffen und seine Macht kennen gelernt hat, hängt nicht ab von
sanfteren oder rauheren Lüften; auch weißt du, wie wir über Schmerz und
Freude denken, und bist einverstanden damit. "Oder macht dir der Ehrgeiz
zu schaffen?" Aber wie schnell breitet Vergessenheit über alles ihren
Schleier! wie unablässig drängt eins das andere in dieser Welt ohne
Anfang und ohne Ende! Wie nichtig ist jeder Nachklang unseres Tuns! wie
veränderlich und wie urteilslos jede Meinung, die sich über uns bildet
und wie eng der Kreis, in dem sie sich bildet!
Ein Punkt im Weltall

ie ganze Erde ist ja nur
ein Punkt im All, und wie klein ist nun wieder der Winkel auf ihr, wo
von uns die Rede sein kann! Wie viele können es sein, und was für
welche, die unsern Ruhm verkünden? In der Tat also gilt es sich
zurückzuziehen auf eben diesen kleinen Raum, der unser ist, und hier
sich weder zerstreuen, noch einspannen zu lassen, sondern sich frei zu
bewegen und die Dinge anzusehen wie ein Mensch, wie ein Glied der
Gesellschaft, wie ein sterbliches Wesen. Unter allen Wahrheiten aber,
die dir am geläufigsten sind, müssen jedenfalls die beiden sein: die
eine: dass Außendinge die Seele nicht berühren dürfen, sondern wirklich
Außendinge sein und bleiben müssen. Denn Widerwärtigkeiten gibt es nur
für den, der sie dafür hält. Die andere: dass alles, was du siehst, sich
bald verwandeln und nicht mehr sein werde, wie du selbst schon eine
Menge Wandlungen durchgemacht hast. Mit einem Wort: die Welt ist ein
ewiger Wechsel, das Leben ein Wahn!
IV.
Haben wir alle das Denkvermögen gemein, dann auch die Vernunft? dann
auch die Stimme, die uns sagt, was wir tun und lassen sollen; dann auch
eine Gesetzgebung; wir sind also alle Bürger eines und desselben
Reiches. Und so würde folgen, dass die Welt ein Reich ist. Denn welches
Reich wäre sonst dem menschlichen Geschlecht gemein? Stammt nun etwa
jene Denkkraft, jenes Vernünftige und Gesetzgebende aus diesem uns allen
gemeinsamen Reiche oder sonst woher?

enn gleichwie bei verschiedenen
Stoffen jeder seine besondere Quelle hat (denn es ist Nichts, was aus
dem Nichts entstände, so wenig wie Etwas in das Nichts übergeht), so muss
auch das Geistige irgendwoher stammen.
Geburt und Tod
V.
Mit dem Tode verhält es sich wie mit der Geburt: beide sind Geheimnisse
der Natur. Dieselben Elemente welche hier sich einigen, werden dort
gelöst. Und das ist nichts, was uns unwürdig vorkommen könnte. Es
widerspricht weder dem vernünftigen Wesen selbst, noch der Art und
Weise seiner Einrichtung.
VI.
Es liegt freilich in der Natur der Sache, dass gewisse Leute einen
solchen Widerspruch darin finden. Aber wer dies nicht will, will nicht,
dass der Feigenbaum Saft habe. Ueberhaupt aber bedenke, dass
ihr beide, du und er, in kürzester Zeit sterben werdet, und dass bald
nicht einmal euer Name in Erinnerung bleibt.
VII.
Lass deinen Wahn schwinden, du hörst auf dich zu beklagen. Beklagst du
dich nicht mehr, ist auch das Uebel weg.
VIII.
Der Begriff des Heilsamen und des Schädlichen schließt es schon in sich,
dass, was den Menschen nicht verdirbt, auch sein Leben nicht verderben
oder verbittern kann weder von auß noch von innen.
IX.
Weil es nützlich ist, handelt die Natur notwendigerweise so, wie sie
handelt.
X.
Alles, was geschieht, geschieht mit Recht; einer genauen Beobachtung
kann das nicht entgehen. Auch sage ich nicht bloß: es ist in der
Ordnung, sondern: es ist recht, d.h. als käme es von einem, der alles
nach Recht und Würdigkeit austeilt. Setze deine Beobachtungen nur fort,
und du selbst - was du auch tust, mache gut! gut im eigentlichsten Sinne
des Worts! Denke daran bei jeder deiner Handlungen!
XI.
Wie derjenige denkt, der dich verletzt, oder wie er will, dass du denken
sollst, so denke gerade nicht. Sondern sieh die Sache an, wie sie in
Wahrheit ist.
XII.
Zu zweierlei müssen wir stets bereit sein: einmal, zu handeln einzig den
Forderungen entsprechend, welche das in uns herrschende Gesetz an uns
stellt - und das heißt immer auch zugleich zum Nutzen der Menschen
handeln. Sodann: auf unserer Meinung nicht zu beharren, wenn einer da
ist, der sie berichtigen und uns so von ihr abbringen kann. Doch muss
jede Sinnesänderung davon ausgehen, dass die neue Ansicht die richtige
und gute sei, nicht davon, dass sie Annehmlichkeiten und $auml;ußere Vorteile
verschaffe.
XIII.
Wenn du Vernunft hast, warum gebrauchst du sie nicht? Tut sie das
ihrige, was kannst du mehr verlangen?
XIV.
Was du bist, ist doch nicht das Ganze. So wirst du denn auch einst
aufgehen in dem, der dich erzeugte; oder vielmehr, nach geschehener
Wandlung wirst du wieder aufgenommen werden in seine Erzeugernatur.
XV.
Viele Weihrauchkörner fallen auf denselben Altar der Gottheit - das ist
des Menschen Leben. Wieviel davon schon gestreut ist, wieviel noch
nicht, was liegt daran?
XVI.
Sobald du dich zu den Grundsätzen und dem Dienst der Vernunft bekehrst,
kannst du innerhalb zehn Tagen denen ein Gott sein, denen du jetzt so
verächtlich erscheinst wie ein Affe oder ein wildes Tier.
XVII.
Richte dich nicht ein, als solltest du hundert Jahre alt werden. Denn
wie nahe ist vielleicht dein Ende! Aber solange du lebst, solange es in
deiner Macht steht - sei gut!
XVIII.
Welch ein Gewinn, wenn man auf anderer Leute Worte, Angelegenheiten und
Gedanken nicht achtet, sondern nur merkt auf das eigene Tun, ob es
gerecht und fromm und gut sei,
"-das Auge abgewendet
vom Pfuhl des Lasters, nur der eignen Bahn
nachgehend, grad und unverrückt."
Sucht nach Ruhm
XIX.
Der Ruhmbegierige bedenkt nicht, dass auch die in aller Kärze nicht mehr
sein werden, die seiner gedenken, und dass es sich mit jedem folgenden
Geschlecht ebenso verhält, bis endlich die Erinnerung, durch solche
fortgepflanzt, die nun erloschen sind, selber erlischt. Aber gesetzt
auch, sie wären unsterblich, die deinen Namen nennen, und unsterblich
dieses Namens Gedächtnis: was nätzt dir es? dir, der du bereits gestorben
bist? Aber auch, was nützt dir es bei deinem Leben? Es sei denn, dass du
zeitliche Vorteile dabei hast. Sind also Ruhm und Ehre dir zuteil
geworden, achte dieser Gabe nicht! sie macht dich eitel und abhängig vom
Geist und Wort der andern.
XX.
Jegliches Schöne ist schön durch sich selbst und in sich vollendet, so
dass für ein Lob kein Raum in ihm ist. Wird es doch durch Lob weder
schlechter noch besser. Dies gilt auch von dem, was man in der Regel
schön nennt, von dem körperlich Schönen und den Werken der Kunst. Das
wahrhaft Schöne bedarf des Lobes ebensowenig als das göttliche Gesetz,
die Wahrheit, die Güte, die Scham. Oder vermag daran etwa das Lob zu
bessern oder der Tadel zu verderben? Wird die Schönheit des Edelsteins,
des Purpurs, des Goldes, des Elfenbeins, die Schönheit eines
Instruments, einer Blüte, eines Bäumchens geringer dadurch, dass man sie
nicht lobt?
XXI.
Wenn die Seelen fortdauern, wie vermag sie der Luftraum von Ewigkeit her
zu fassen? Aber wie ist denn die Erde imstande, die Leichname sovieler
Jahrtausende zu fassen? Die Leiber, nachdem sie eine Zeitlang gedauert
haben, verwandeln sich und lösen sich auf, und so wird andern Leibern
Platz gemacht. Ebenso die in den Aether versetzten Seelen. Eine Zeitlang
halten sie zusammen, dann verändern sie sich, dehnen sich aus,
verbrennen und gehen in das allgemeine Schöpferwesen auf, so dass ein
Raum für neue Bewohner entsteht. So etwa ließe sich die Ansicht von der
Fortdauer der Seelen erklären.

as aber die Leiber betrifft, so kommt
hier nicht bloß die Menge der auf jene Weise untergebrachten, sondern
auch die der täglich von uns und von den Tieren verzehrten Leiber in
Betracht. Welch eine Menge verschwindet und wird so gleichsam begraben
in den Leibern derer, die sich davon nähren, und immer derselbe Raum
ist es, der sie fasst, durch Verwandlung in Blut, in Luft- und
Wärmestoffe. Das Prinzip oder die Summe aller dieser Erscheinungen ist
also: die Auflösung in die Materie und in den Urgrund aller Dinge.
XXII.
Stets entschieden, gilt es, zu sein und das Rechte im Auge zu haben bei
jeglichem Streben. In dem Gedankenleben aber sei das Begreifliche dein
Leitstern.
XXIII.
Was mit dir zusammenstimmt, o Welt, ist auch für mich angemessen! Nichts
kommt zu früh für mich und nichts zu spät, wenn es bei dir heißt: "Zu
guter Stunde." Eine süße Frucht ist mir alles, was du gezeitigt hast,
Natur. Von dir und in dir ist alles und zu dir kehrt es zurück.--Als
Aristophanes Theben wiedersah, rief er: "Du liebe Stadt des Kekrops!"
und ich, ich sollte mit dem Blick auf dich nicht sagen: "Du liebe Stadt
des höchsten Gottes?"
XIV.
Nur auf wenig Dinge, heißt es, darf sich deine Tätigkeit erstrecken,
wenn du dich wohl befinden willst. Aber wäre es nicht besser, sie auf
das Notwendige zu richten? auf das, was wir als Wesen, die auf das Leben
in Gemeinschaft angewiesen sind, tun sollen? Denn das hieße nicht bloß
das Vielerlei, sondern auch das Schlechte vermeiden und müsste uns also
doppelt glücklich machen. Gewiss würden wir ruhiger und zufriedener sein,
wenn wir das meiste von dem, was wir zu reden und zu tun pflegen, als
überflüssig ließen. Ist es doch durchaus notwendig, dass wir in jedem
einzelnen Falle, ehe wir handeln, eine Stimme der Warnung vernehmen; und
sollte die von etwas ausgehen künnen, das an sich selbst unnötig ist?
Zuerst aber befreie deine Gedanken von allem, was unnütz ist, dann wirst
du auch nichts Unnützes tun.
Selbstbetrachtungen. Viertes Buch.
XXV.
Unternimm den Versuch - vielleicht gelingt es dir - zu leben wie ein Mensch,
der mit seinem Schicksal zufrieden ist, und, weil er recht handelt und
liebevoll gesinnt ist, auch den inneren Frieden besitzt.
XXVI.
Willst du? so höre noch dies: Rege dich nicht selbst auf, und bleibe
immer bei dir. Hat sich jemand an dir vergangen: an sich selbst hat er
sich vergangen. Ist dir etwas Trauriges widerfahren: es war dir von
Anfang an bestimmt; was geschieht, ist alles Fägung. Und im Ganzen: das
Leben ist kurz. Die Gegenwart ist es, die wir nutzen sollen, durch
rechtschaffenes und überlegtes Handeln, und wenn wir ausruhen wollen,
durch ein besonnenes Ausruhen. Auch in Erholungsstunden bleibe nächtern!
Weltordnung
XXVII.
Entweder ist die Welt ein wohlgeordnetes Ganzes oder ein zufälliges
Gemenge, das man aber doch eine Weltordnung nennt. Doch wie? Kann in dir
eine gewisse Ordnung herrschen, wenn im Weltganzen Unordnung herrscht?
Und das könnte sein bei der ineinandergestimmten Vereinigung aller
möglichen Kräfte, die einander widerstreiten und zerteilt sind?
XXVIII.
Es gibt schwarze Charaktere, weibische, halsstarrige, tierische,
viehische, kindische, träge, zweideutige, geckenhafte, betrügerische,
tyrannische Charaktere.
XXIX.
Wenn der ein Fremdling ist in der Welt, der nicht weiß, was auf ihr ist
und geschieht, so nenne ich den einen Flüchtling, der sich den
Ansprüchen des Staates entzieht; einen Blinden, der das Auge seines
Geistes schließt; einen Bettler, der eines andern bedarf und nicht in
sich alles zum Leben Nötige trägt; einen Auswuchs des Weltalls, der von
dem Grundgesetz der Allnatur abweicht und--mit dem Schicksal hadert! als
hätte sie, die dich hervorgebracht, nicht auch dieses erzeugt; ein
abgehauenes Glied der menschlichen Gesellschaft, der mit seiner Seele
von dem Lebensprinzip der einen alle Vernunftwesen umfassenden Gemeinde
geschieden ist.
XXX.
Es gibt Philosophen, die keinen Rock anzuziehen haben und halbnackt
einhergehen. "Nichts zu essen, aber treu der Idee." Auch für mich ist
die Philosophie kein Brotstudium.
XXXI.
Liebe immerhin die Kunst, die du gelernt hast, und ruhe dich aus in ihr.

och gehe durchs Leben nicht anders wie einer, der alles, was er hat von
ganzem Herzen den Göttern weiht, niemandes Tyrann und niemandes Knecht.
XXXII.
Betrachten wir die Geschichte, z.B. die Zeiten Vespasians, so finden wir
Menschen, die sich freien, Kinder zeugen, krank liegen, sterben, Krieg
führen, Feste feiern, Handel treiben, Acker bauen; finden Schmeichler,
Freche, Misstrauische, Listige, oder solche, die ihr Ende herbeiwünschen,
die sich über die schlimmen Zeiten beklagen; finden Liebhaber,
Geizige, Ehrgeizige, Herrschsüchtige. Nicht wahr? Ihr Leben ist jetzt
nirgends mehr zu finden. Gehen wir über auf die Zeiten des Trajan: alles
ganz ebenso. Und auch diese Zeit ging zu Grabe.--So betrachte die
Grabschriften aller Zeiten und Völker, damit du siehst, wie viele, die
sich aufschwangen, nach kurzer Zeit wieder sanken und vergingen.

amentlich muss man immer wieder an die denken, bei denen wir es mit
eignen Augen gesehen haben, wie sie nach eitlen Dingen trachteten, wie
sie nicht taten, was ihrer Bildung entsprach, daran nicht unablässig
festhielten und sich daran nicht genügen ließen. Und fällt uns dann die
Regel ein, dass die Behandlung einer Sache ihren Maßstab in dem Wert der
Sache selbst hat, so wollen wir sie doch ja beobachten, damit wir uns
vor dem Ekel bewahren, der die notwendige Folge davon ist, dass man den
Dingen mehr Wert beilegt, als sie verdienen.
XXXIII.
Worte, die ehemals im Gebrauch waren, sind nun veraltet. So sind auch
die Namen einst berühmter Männer, eines Camill, Scipio, Cato, dann
eines Augustus, dann Hadrians, dann Antoninus Pius, später gleichsam
veraltete Worte. Sie verbleichen bald und nehmen das Gewand der Sage an,
bald sind sie gar versunken in Vergessenheit. Dies gilt von denen, die
ehemals so wunderbar geleuchtet haben. Denn von den andern, sind sie nur
tot, weiß man nichts mehr, hat man nie etwas gehört. Also ist
Unvergesslichkeit ein leeres Wort. Aber was ist es denn nun, wonach
sich es lohnt zu streben? Nur das eine: eine tüchtige Gesinnung, ein
Leben zum Besten anderer, Wahrheit in jedem Wort, ein Zustand des
Gemüts, wonach dir alles, was geschieht, notwendig scheint und dir
befreundet, aus einer Quelle fließend, mit der du vertraut bist.
XXXIV.
Gib dich dem Schicksal willig hin, und erlaube ihm, dich mit den Dingen
zu verflechten, die es dir irgend zuerkennt.
XXXV.
Eintagsfliegen sind beide, der Gedenkende und der, dessen gedacht wird.
Stetig der Wandel
XXXVI.
Alles entsteht durch Verwandlung, und die Natur liebt nichts so sehr,
als das Vorhandene zu verwandeln und Neues von ähnlicher Art zu erzeugen.
Jedes Einzelwesen ist gewissermaßen der Same eines zukünftigen, und es
wäre eine große Beschränktheit, nur das als ein Samenkorn anzusehen, was
in die Erde oder in den Mutterschoß geworfen wird.
XXXVII.
Wie bald wirst du tot sein, und noch immer bist du nicht ohne Falsch,
nicht ohne Leidenschaft, nicht frei von dem Vorurteil, dass Aeußeres dem
Menschen schaden känne, nicht sanftmütig gegen jedermann, und noch immer
nicht überzeugt, dass Gerechtigkeit die einzig wahre Klugheit sei.
XXXVIII.
Mache dich mit den herrschenden Gesinnungen der Menschen bekannt, mit
ihren Sorgen und mit dem, was sie fliehen und was sie erstreben.
XXXIX.
In der Seele eines andern sitzt es nicht, was dich unglücklich macht,
auch nicht in der Wendung deiner äußeren Verhältnisse. Wo denn, fragst
du? In deinem Urteil! Halte es nicht für ein Unglück, und alles steht
gut. Und wenn, was dich zunächst umgibt, deine Haut verwundet,
geschnitten, gebrannt wird, muss der Teil deines Wesens, der über solche
Dinge urteilt, in Ruhe sein, d.h. er muss denken, dass das, was ebenso den
Guten wie den Bösen treffen kann, unser Unglück oder unser Glück
unmöglich ausmacht. Denn was bald der erfährt, der gegen die Natur lebt,
bald wieder der, der ihrer Stimme folgt, das kann doch selbst nicht
widernatürlich oder natürlich heißen.
XL.
Die Welt ist ein einziges lebendiges Wesen, ein Weltstoff und eine
Weltseele. In dieses Weltbewusstsein wird alles aufgenommen, so wie aus
ihm alles hervorgeht, so jedoch, dass von den Einzelwesen eines des
anderen Mitursache ist und auch sonst die innigste Verknüpfung unter
ihnen stattfindet.
XLI.
Nach
Epiktet
ist der Mensch - eine Seele mit einem Toten belastet.
XLII.
Was zu dem Wandlungsprozess gehört, dem wir alle unterworfen sind, das
kann als solches weder gut noch böse sein.
XLIII.
Ein Strom des Werdens, in dem eins das andre jagt, ist die Zeit. Denn
ein jegliches Ding - verschlungen ist es, kaum da es aufgetaucht. Aber
kaum ist das eine dahin, trägt die Woge schon wieder ein anderes her.
Doch auch dieses wird weggeschwemmt.
XLIV.
Wie die Rose die Vertraute des Sommers und die Früchte die Freunde des
Herbstes sind, so ist das Schicksal uns freundlich gesinnt, mag es nun
Krankheit oder Tod oder Schimpf und Schande heißen. Denn Kummer machen
solche Dinge nur dem Narren.
XLV.
Das Folgende entspricht immer dem Vorangehenden, nicht nur in der Weise
des Nacheinander mit bloß äußerer Verknüpfung, sondern durch ein inneres
geistiges Band. Denn wie im Reiche des Gewordenen alles harmonisch
gefügt ist, so tritt uns auch auf dem Gebiete des Werdens keine bloße
Aufeinanderfolge, sondern eine wunderbare innere Verwandtschaft
entgegen.
XLVI.
Mag es richtig sein, was Heraklit sagt, dass in der Natur das eine des
andern Tod sei, der Erde Tod das Wasser, des Wassers die Luft, der Luft
das Feuer und umgekehrt; doch hat er nicht gewusst, wohin alles führt.
Aber es lässt sich auch von solchen Leuten lernen, die das Ziel ihres
Weges aus dem Gedächtnis verloren haben, auch von solchen, die, je mehr
sie mit dem alles beherrschenden Geiste verkehren, tatsächlich sich
desto mehr von ihm entfernen, auch von denen, welchen gerade das fremd
ist, was sie täglich beschauen, oder die wie im Traume handeln und reden
(denn auch das nennt man noch Tätigkeit), oder endlich von solchen, die
wie die kleinen Kinder alles nachmachen.
XLVII.
Wenn dir ein Gott weissagte, du würdest morgen, höchstens übermorgen
sterben, so könntest du dich über dieses "Uebermorgen" doch nur freuen,
wenn gar nichts Edles in dir steckt. Denn was ist es für ein Aufschub!
Ebenso gleichgültig aber müsste es dir sein, wenn man dir prophezeite:
nicht morgen, sondern erst nach langen Jahren!
Machtlose Aerzte
XLVIII.
Bedenke, wie viele Aerzte sind gestorben, nachdem sie an wie vielen
Krankenbetten bedenklich den Kopf geschüttelt; wie viele Astrologen, die
erst andern mit großer Wichtigkeit den Tod verkündigten; wie viele
Philosophen, nachdem sie über Tod und Unsterblichkeit ihre tausenderlei
Gedanken ausgekramt; wie viele Kriegshelden mit dem Blute anderer
bespritzt; wie viele Fürsten, die ihres Rechtes über Leben und Tod mit
großem Uebermute brauchten, als wären sie selbst nicht auch sterbliche
Menschen; wie viele Städte - Helion, Pompeji, Herkulanum und unzählige
andere - sind, dass ich so sage, gestorben!

ann die du selbst gekannt
hast, einer nach dem andern! Der jenen begrub, wurde dann selbst
begraben, und das binnen kurzem. Denn alles Menschliche ist nichtig und
vorübergehend, das Gestern eine Seifenblase, das Morgen - erst eine
einbalsamierte Leiche, dann ein Haufen Asche. Darum nutze das Heute so
wie du sollst, dann scheidet es sich leicht: wie die Olive, wenn sie reif
geworden abfällt - preisend den Zweig, an dem sie hing, dankend dem Baum,
der sie hervorgebracht!
XLIX.
Wie der Fels im Meere, an dem die Wellen unaufhörlich rütteln, steht, so
dass ringsum der Brandung Ungestüm sich legen muss, so stehe auch du!
Nenne dich nicht unglücklich, wenn dir ein "Unglück" widerfuhr! Nein,
sondern preise dich glücklich, dass, obwohl es dir widerfahren ist, der
Schmerz dir doch nichts anhat und weder Gegenwärtiges dich mürbe machen,
noch die Zukunft dich ängstigen kann.
Jedem könnte es begegnen, aber
nicht jeder hätte es so ertragen. Und warum nennst du das eine ein
Unglück, das andere ein Glück? Nennst du nicht das ein Unglück für den
Menschen, was ein Fehlgriff seiner Natur ist? Aber wie sollte das ein
Fehlgriff der menschlichen Natur sein können, was nicht wider ihren
Willen ist? Und du kennst doch ihren Willen? Kann dich denn irgendein
Schicksal hindern, gerecht zu sein, hochherzig, besonnen, klug,
selbständig in deiner Meinung, wahrhaft in deinen Reden, sittsam und
frei in deinem Betragen, hindern an dem, was, wenn es vorhanden ist, so
recht dem Zweck der Menschennatur entspricht? So oft also etwas
Schmerzhaftes dir nahe tritt: denke, es sei kein Unglück; aber ein Glück
ist, es mit edlem Mut zu tragen.
Zeit ist relativ
L.
Es ist zwar ein lächerliches aber wirksames Hilfsmittel, wenn man den
Tod verachten lernen will, sich die Menschen zu vergegenwärtigen, die
mit aller Inbrunst am Leben hingen. Denn was war ihr Los, als dass sie
"zu früh" starben? Begraben liegen sie alle, die Fabius, Julianus,
Lepidus oder wie sie heißen mögen, die allerdings so manche andere
überlebten, dann aber doch auch an die Reihe mussten. Wie klein ist
dieser ganze Lebensraum, und unter wieviel Mühen, mit wie schlechter
Gesellschaft, in wie zerbrechlichem Körper wird er zurückgelegt! Es ist
nicht der Rede wert. Hinter dir eine Ewigkeit und vor dir eine Ewigkeit:
dazwischen - was für ein Unterschied ob du drei Tage oder drei
Jahrhunderte zu leben hast?
LI.
Immer wandle den kürzesten Weg, den du zu gehen hast! Er ist der
natürliche. Man folgt da im Reden und Tun nur der gesunden Vernunft. Du
wirst dich auf diese Weise von mancher Sorge und von manchem Ballast
befreien.
>
Selbstbetrachtungen Teil 5